Ukraine-Krieg und 100-Milliarden-Paket: Die von Kanzler Scholz ausgerufene Zeitenwende geht auch an der Marine nicht spurlos vorbei. Im Interview mit dem marineforum erklärt der Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Jan C. Kaak, die geänderte Situation für seine Teilstreitkraft.
Der Krieg in der Ukraine dauert bereits über ein halbes Jahr an. Was bedeutet dies konkret für die Deutsche Marine?
Als ich am 24. Februar der Marine befahl „Alles, was schwimmt, geht raus“, geschah das mit einem Gefühl des „Nicht während unserer Wache!“ Und genau das haben die Männer und Frauen der Marine – an Land, auf See und in der Luft – in den letzten Wochen eindrucksvoll unterstrichen. Bis zu 28 Einheiten in kürzester Zeit in See gebracht, die Ständigen NATO-Einsatzverbände verstärkt sowie Schiffe, Boote und Flugzeuge in die östliche Ostsee entsandt. Für unsere kleine Marine ist das schon eine irre Zahl. Und das trotz der Personal- und Materialmisere, die uns alle quält. Das war und ist eine bewegende Haltung unserer Menschen in der Marine, die damit unterstrichen haben, dass wir gemeinsam für das Versprechen der NATO des „Einer für alle und alle für einen“ einstehen – schnell und effektiv. Und all das ist nicht unbemerkt geblieben – weder bei unseren Freunden noch bei anderen.
Seien wir aber auch ehrlich – diese Zahl an Einheiten, diesen Kraftakt können wir nicht unbegrenzt durchhalten. Auch stand hier der Ausbildungsstand unserer Einheiten nicht im Fokus, sondern es ging um eine schnelle Reaktion – um ein sichtbares Zeichen der Solidarität und Entschlossenheit an unsere Alliierten und Partner, insbesondere die, die sich aufgrund ihrer geografischen Nähe zu Russland besonders bedroht fühlen.
Deshalb haben wir mit unserem Concept of Operation „Baltic Guard“ aus dem Stand ein neues Instrument geschaffen, das uns ermöglicht, Aktivitäten primär in der Ostsee nach Raum und Zeit zu koordinieren sowie gemeinsame Übungsaktivitäten zu stärken. Das operative Konzept ist bis auf NATO-Ebene im Allied Maritime Command verteilt, sodass sich auch unsere Partner in der Ostsee beteiligen können. Sogar die US Navy hat aktiv mitgemacht. Inzwischen hat die NATO Baltic Guard zu einer der enhanced vigilant activities erklärt.
Öffnet sich mit dem 100-Milliarden-Paket auch eine Chance für die Marine? Welche Erwartungen haben Sie?
Um auch zukünftig als verlässliches Instrument der Politik, oder, wie wir es im Kompass Marine ausgedrückt haben, als Instrument und Arm unseres Staates agieren zu können, müssen wir „unsere Einsatzfähigkeit und Kampfkraft erhalten und ... stärken“. Letztendlich geht es dabei natürlich darum, gemeinsam mit Freunden besser zu sein als mögliche Gegner. Nur dann funktioniert das Prinzip Abschreckung – wenn der Ausgang einer möglichen Konfrontation für den Gegner unsicher bleibt.
Dieses „gemeinsam mit Freunden besser zu sein als andere“ ist unser Anspruch. Hierfür muss die Deutsche Marine aber vor allem eines können: funktionieren. Wir brauchen unsere Schiffe und Flugzeuge jetzt einsatzbereit – nicht in zehn Jahren, und wir müssen jetzt die angestoßenen Projekte der letzten Jahre zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. Dabei macht mich die Ankündigung einer umfassenden Reform von Strukturen, Prozessen und Verfahren sowie die zu erwartende nachhaltige finanzielle Unterfütterung der Bundeswehr vorsichtig optimistisch, dass wir substanzielle Verbesserungen für die Marine erreichen können. Sehen Sie mir bitte meine norddeutsche Zurückhaltung nach, die Wahrheit ist: Wir freuen uns riesig!
Eines sind diese 100 Milliarden aber nicht – ein Allheilmittel für unsere Probleme. Deshalb gilt es konsequent zwei Schritte zu gehen. Zu allererst müssen wir unsere Bestandsflotte stärken. Wir haben dazu in kurzer Frist auch ein Paket mit vielen kleinen Projekten und Bedarfen zusammengetragen und gemeldet. Hier liegt die Chance auf kurzfristige Effekte. Sehr einfach formuliert habe ich das so auf den Punkt gebracht: Meine sieben Prioritäten sind: Munition, Munition, Munition, Ersatzteile, Ersatzteile, Ersatzteile – und Führungsfähigkeit. Eine Riesenchance liegt im Aufbau des neuen Marinearsenalbetriebs in Warnemünde.
Mit dieser substanziellen Stärkung unserer Instandhaltungsmöglichkeiten wird ein Turnaround in der dauerhaften Einsatzfähigkeit der Marine möglich. Eben diesen Wendepunkt braucht die Deutsche Marine so schnell wie möglich. Mit dem Kauf des ehemaligen Werftgeländes der MV-Werften ist der Anfang nun gemacht. Jetzt kommt es darauf an, die neue Außenstelle schnell „zum Laufen“ zu bringen.
Aber auch die Modernisierung unserer Flotte darf nicht aus dem Auge verloren werden – und wird sie nun auch nicht. Hier haben wir schon früh vorgebaut und wissen sehr genau, was wir mit dem Anteil Marine anfangen müssen, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben und uns für die Zukunft aufzustellen.
Wichtige Schritte wie der Baubeginn der U-Boote 212CD, neue Flottendienstboote und Seefernaufklärer P-8 Poseidon wurden bereits vor der „Zeitenwende“ angestoßen. Nunmehr könnten wir in eine weitere Stärkung unser U-Jagd- und Strike-Fähigkeiten investieren, wie auch endlich kleine Kampfboote für das Kommando Spezialkräfte der Marine und das Seebataillon realisieren. Im Bereich der Minenabwehr wie auch beim Ersatz der Tender, Hilfsschiffe und Tanker sehe ich Licht am Ende des Tunnels. Und definitiv längst überfällig: unsere Führungsfähigkeit verbessern – von German Mission Network 2 und 4 über Satcom bis zur Ertüchtigung der Bordnetze. Gleichzeitig wollen wir den Einstieg in die stärkere Nutzung unbemannter Systeme unter und über Wasser und in der Luft einsteigen.
Sie haben bereits infolge Ihrer damaligen Amtsübernahme als Befehlshaber die Marine bereist. Welche Konsequenzen ziehen Sie für Einsätze, NATO-Verpflichtungen und den Beitrag der Marine in der Ostsee?
Das ist richtig. Schon damals zeichnete sich die Zuspitzung der sicherheitspolitischen Lage ab. Heute sind unsere Befürchtungen bittere Realität. Darauf müssen wir reagieren und die Marine „fit für die Zukunft“ machen.
Aber auch hier wird der Erfolg ganz entscheidend von unserem Willen und unserer Bereitschaft abhängen, diesen Weg beherzt und konstruktiv mitzugehen. Die Marine geht hier all in, und wir drehen gerade jeden Stein um, damit wir besser und schneller werden. Ohne externe Hilfe wird es aber nicht gehen: Die Stichworte sind Flexibilisierung der Einsätze, Einhalten von Zertifizierungsstandards als Grundlage einer verantwortbaren Entsendung unserer Männer und Frauen in Einsätze sowie die signifikante Verbesserung des Instandhaltungssystems unserer Einheiten.
Dies bedingt eine Neubetrachtung der Einsätze im Mittelmeer und damit einhergehend deren Flexibilisierung beziehungsweise Beendigung. Es bedeutet auch, als Grundlage für den Einsatz unserer Einheiten nur die Zertifizierungshöhe „gefechtsbereit“ zu akzeptieren. Dafür haben mir die Ministerin und der Generalinspekteur grünes Licht gegeben. Darüber hinaus wird die Zukunft der Einsätze derzeit in der Politik diskutiert.
Bezüglich unseres Beitrags zur NATO fragte mich der Commander Allied Maritime Command, wie wir uns zukünftig aufstellen wollen. Meine Antwort war einfach: „The German Navy will stay regionally rooted and globally committed!“ Regional verwurzelt – weltweit engagiert!
Unser Haupteinsatzgebiet bleibt die Nordflanke mit Nordsee, Nordnorwegensee und Atlantik – mit einem besonderen Blick auf die Ostsee. Hierauf stellen wir uns in Ausrüstung, Ausbildung, Führung und Übungsbeteiligung ein. Das Stärken der NATO-Einsatzverbände, die Beteiligung an hochwertigen Übungen sowie der Schutz der Carrier Strike Groups sind in unserem Interesse.
Der Blick in die Ostsee zeigt, dass dies nun leider wieder ein Brennpunkt an der Nordflanke der NATO ist – stark militarisiert und mit dem ständigen Potenzial des Aufeinandertreffens von Kräften der NATO und EU sowie Russlands. Gleichzeitig ist der NATO-Beitritt von Finnland und Schweden, den wir alle sehr begrüßen, ein willkommener strategischer Gamechanger.
Die Deutsche Marine bleibt in dieser Region dennoch keine kleine Marine. Die Verantwortung, die daraus erwächst, nehmen wir gerne an. Gemeinsam mit unseren Partnern in der Ostsee verstärken wir gerade unsere jahrelange erfolgreiche Kooperation, auch um Herrn Putin deutlich zu machen: „Versuch‘ es nicht bei uns! Wir lassen das nicht zu!“ In der Folge dieser Aktivitäten sehen wir auf der Gegenseite „Normverhalten“ – auch und gerade, weil wir wachsam sind.
Zur Verstetigung unserer gemeinsamen Aktivitäten hat der Generalinspekteur letzthin der NATO angeboten, dass die Deutsche Marine in Rostock ein Regional Maritime Headquarters for the Baltic für unsere Heimatregion einrichtet – wir sind bereit, diese Koordinierungs- und Führungsrolle zu übernehmen.
Finnland und Schweden stehen vor einem NATO-Beitritt. Wie wird die Marine reagieren und sich den Folgen anpassen?
Wie ich schon sagte: Der NATO-Beitritt von Finnland und Schweden ist ein strategischer Gamechanger. Aus Freunden werden Alliierte. Was für eine Geschichte! An dieser Stelle möchte ich einmal eine Lanze für Freundschaften und Netzwerke brechen. Alle Inspekteure der Ostseeanrainer kennen sich persönlich seit Jahren und haben gemeinsam die Ostseekooperation vorangetrieben. Da ist es nicht verwunderlich, wenn in dieser Situation ein einfacher Telefonanruf ausreicht, um uns zusammenzubringen und uns gegenseitig zu unterstützen. Mich bewegt das sehr.
Strategisch eröffnet der NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens ganz neue Optionen mit Blick auf die Nachschublinien für das Baltikum. Gleichzeitig liegt es jetzt umso mehr im Interesse der Allianz, die Freiheit und Sicherheit der Seewege in die und in der Ostsee zu gewährleisten. Deswegen halte ich auch nichts von der Formulierung, die Ostsee sei nun ein NATO-Binnenmeer. Das ist schon völkerrechtlich sehr fragwürdig. Wir stehen für die regelbasierte Ordnung. Friedliche Passage und das freie Befahren der Hohen See sind Teil dieser Ordnung. Das gilt auch für die Ostsee.
Deu Marfor steht vor der Zertifizierung, die Full Operational Capability ist für 2025 vorgesehen. Was ist Ihnen wichtig?
Der maritime Führungsstab Deu Marfor hat erst im Mai seine Erstbefähigung eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Das werden wir schon sehr bald der NATO melden. Damit sind wir unserem Ziel, der Zertifizierung und damit der vollen Einsatzfähigkeit, zur rechten Zeit einen großen Schritt nähergekommen.
Wir wollen als Deutsche Marine Verantwortung übernehmen - im Bündnis und im Ostseeraum. Wir haben Jahrzehnte vom Versprechen der NATO profitiert. Gerade jetzt ist es an der Zeit, zurückzugeben – vor allen Dingen unseren Freunden im Baltikum und in Polen. Das erwähnte Regional Maritime Headquaters for the Baltic stellen wir dabei aus den vorhandenen Strukturen auf. Im Grunde übernimmt dieses HQ dann die Aufgaben, die das Marinekommando derzeit im Rahmen von Baltic Guard leistet: Das Koordinieren der alliierten Kräfte nach Raum und Zeit im Ostseeraum, um flächendeckend Präsenz, Wachsamkeit und sicher auch Aufklärung sicherzustellen.
Darüber hinaus setze ich mit meiner Absicht 2022 drei Schwerpunkte. Die Marine muss in Vorbereitung auf das, was in Zukunft kommen mag, eine schlagkräftige Kampfgemeinschaft werden. Das heißt frontline first, alles auf Landes- und Bündnisverteidigung ausrichten und den Willen zum Gewinnen fordern und fördern.
Wir wollen verantwortungsvolle Partner sein. Deswegen sollen unsere Alliierten wissen, wofür wir stehen und wo wir Verantwortung übernehmen. Das wollen wir im Strategischen Dachdokument klar sagen, das wir natürlich aus der Nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung ableiten werden. Schon jetzt kann ich – norddeutsch zurückhaltend – sagen, auf beiden Gebieten sind wir schon erste Schritte vorangekommen.
Am Ende aber ist die intakte Familie Seele und Herz einer Marine. Mit dem Kompass Marine haben wir uns dafür eine Vision gegeben, wie wir sein wollen: respektvoll, verantwortungsbereit, mutig und initiativ. Diese Aspekte sind für mich Kernelemente des notwendigen gegenseitigen Vertrauens, das gerade in einer sich verändernden Welt Grundlage für eine erfolgreiche Zusammenarbeit und für Innovation ist.
Was ist mir besonders wichtig? Manch einer mag sagen: Warum muss immer erst was passieren, bis … Weil Politik Interessenausgleich und Kompromiss ist. Heute, hier und jetzt sind schnell sind die richtigen politischen Weichen gestellt. Jetzt sind wir dran.
Die Unterstützung und Wertschätzung der Bevölkerung, die schon seit Jahrzehnten weiß, dass sie sich auf uns verlassen kann, verstehe ich vor allem als Verpflichtung, alles für den Schutz und die Verteidigung unserer Demokratie, unserer Werte und unserer Freiheit zu tun.
Hans-Uwe Mergener
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