Mit dem Besuch des britischen Premierministers Boris Johnson vom 9. März 2022 in Kiew wurde bekannt, dass zu den Waffenlieferungen des Vereinigten Königreichs zukünftig auch Seezielflugkörper gehören werden. In den Medien wird seitdem das Schiff-Schiff-Flugkörpersystem Harpoon als Option gehandelt.
Neutraler spricht die am 9. April veröffentlichte Pressemitteilung aus 10, Downingstreet von einem „neuen ‚Anti-Schiff‘ Flugkörpersystem“. Ein Grund für das marineforum, sich mit den plausiblen Möglichkeiten zu beschäftigen.
Überlegungen
Als Prämisse in einem Variantencheck gilt erstens, dass es sich um ein britisches Waffensystem handeln sollte, um mögliche Vorbehalte des Herstellerlandes zu umschiffen. Bei Harpoon könnte dieser Aspekt vermutlich aufgrund des speziellen Verhältnisses zwischen London und Washington sowie der Proliferation des A/RGM 84 Harpoon in den Hintergrund treten.
Darüber hinaus gilt, dass das zu liefernde System nicht an westliche Trägersysteme gebunden sein sollte. Wie es bei Flugzeugen und Hubschraubern vielmals der Fall ist. Westliche Flugzeuge oder Hubschrauber, die Lenkwaffensysteme einsetzen, finden sich nicht im Arsenal der ukrainischen Streitkräfte. Somit fällt z.B. Sea Skua weg. Er ist nur mit den Hubschraubern Sea King und Sea Lynx ‚kompatibel‘.
Der in zahlreichen Berichten angeführte Harpoon-Flugkörper wird wie andere Schiff-Schiff-Flugkörpersysteme bei der Royal Navy von schwimmenden Einheiten eingesetzt, darunter die Fregatten Type 23 und die Zerstörer Type 45. Sein Dienstzeitende in der Royal Navy war bereits für 2018 verfügt und ist mittlerweile auf 2023 verschoben.
Abhängig von der jeweiligen Variante sind Harpoon-Flugkörper in der Lage, Seeziele in Entfernungen zwischen 50 und 150 Seemeilen zu treffen. Dabei erhält der Flugkörper die Zieldaten vom Bordsystem der jeweiligen Plattform. In der Anflugphase navigiert er trägheitsnavigationsgesteuert. In einer vorzugebenden Distanz zum Ziel übernimmt das flugkörpereigene Radar die Zielverfolgung und bringt die mehr als 200 Kilogramm Sprengladung ins Ziel. Harpoon kommt mit seinem Führungs- und Einsatzsystem GWS 60, das auf seegestützten Einheiten einzurüsten ist.
Anzumerken ist, dass zurzeit kein Küste-Schiff-Flugkörpersystem, das den Harpoon verwendet, existiert. Dänemark, das mit der ‚MOBA Ops‘ über diese Fähigkeit mit dem Harpoon-Flugkörper verfügte, hat sie zwischen 2000 und 2005 aufgegeben. Taiwan ist im Begriff ein auf Harpoon aufbauendes Küstenverteidigungssystem einzuführen. Die Lieferung des Harpoon Coastal Defense System Launch System (HCDS) wurde im Oktober 2020 im Rahmen eines Foreign Military Sale zwischen Taipeh und Washington vereinbart. Der entsprechende Auftrag wurde am 2. März 2022 an Boeing Co., St. Louis, Missouri, erteilt.
Plausible Optionen
Im Falle der Ukraine erscheint die Verwendung eines von Land einsetzbaren oder eines leicht in das Bordsystem zu integrierendes Flugkörpersystem plausibler. Weiterhin scheint seine geringe Verfügbarkeit bei den britischen Streitkräften gegen Harpoon zu sprechen. Wegen der bevorstehenden Außerdienststellung ist es möglich, dass die Bestände heruntergefahren sind.
Auf sozialen Netzwerken wird Brimstone Sea Spear als denkbare Option diskutiert. Dabei handelt es sich um die Variante einer Panzerabwehrlenkwaffe, die von MBDA für die Royal Air Force gebaut wird. Nach Herstellerangaben ist Brimstone Sea Spear modular aufgebaut und kann in eine Vielzahl von Schiffstypen/-klassen integriert werden. Laut MBDA hat sich der Flugkörper in Afghanistan, Libyen und Syrien bewährt. In den Firmentests soll Sea Spear multiple Ziele erfolgreich bekämpft haben. Eines der Ziele, so der Hersteller, war ein 15 Meter langes Boot, das 20 Knoten lief.
Über Brimstone Sea Spear hinaus bietet MBDA andere Flugkörpersysteme an, die für die Ukraine in Frage kommen könnten. Exocet Mobile Coastal, EMC, ist ein auf dem Exocet-Flugkörper beruhendes Küstenverteidigungssystem. Das Beitragsbild oben zeigt EMC. Marte Mobile Coastal Defense System (MCDS) verwendet Marte Mk2-Flugkörper (auch bekannt als Sea Killer). Beide Systeme umfassen eigene Sensoren für den autonomen Betrieb und/oder die Anbindung an ein umfassenderes C3I-System und bestehen aus einer mobilen Sensor-, eine mobile Kontrolleinheit sowie mobile Abschusseinheiten mit je vier Flugkörpern.
Vorerst unerheblich ist die Größe der Sprengladung. Die über vierzig Kilo Sprengladung des Exocet führten im Falkland-Krieg zum Totalverlust der "HMS Sheffield" und erzielten bei zwei anderen Schiffen, darunter dem RoRo-Schiff "Atlantic Conveyor" erhebliche Trefferwirkung. Sicherlich mag sich die Schadenswirkung der gerade über zehn Kilogramm gehende Sprengladung des Sea Spear gegen Landungsschiffe in Grenzen halten. Andererseits zeigt der Totalverlust der russischen "Saratov" in Berdjansk zu welchen Folgen Treffer der bei russischen Landungseinheiten üblichen Oberdecksladung fähig sind. Der Sea Spear verfügt über eine laser-optische Richtmöglichkeit, was eine solche Trefferwirkung möglich machen könnte.
Weitergehende Absprache
Offen ist zudem, ob diese jetzige Verabredung zu ‚Anti-Schiff‘-Flugkörpern zu dem im November 2021 geschlossenen zwischenstaatlichen Rahmenabkommen gehört. Britischen Presseberichten zufolge sollte es zur Lieferung von zwei Minenabwehrschiffen (MCMV), zur gemeinsamen Herstellung von acht flugkörpertragenden Schiffen, zur Lieferung und Nachrüstung von Waffensystemen für bestehende Schiffe, zur gemeinsamen Herstellung einer Fregatte sowie zur Beratung und technischen Unterstützung beim Bau von Marineinfrastrukturen einschließlich der Lieferung von Ausrüstung beitragen. Der Wert wurde mit 1,7 Milliarden Britischen Pfund (ca. 2,03 Milliarden Euro) beziffert.
Schwer nachvollziehbar, wie bei gleichen Anforderungen, ein Brimstone mit 10-20KM Reichweite als Alternative zum Harpoon mit 100-200KM Reichweite anzusehen ist.
Es sind doch keine gleichen Anforderungen und keine gleichwertigen Alternativen, die im Beitrag angesprochen werden: Mit dem Harpoon könnte man auf der Reede von Sewastopol aufräumen – mit dem Brimstone die eigene Küste gegen Anlandungen schützen. Womit wäre denn der Ukraine mehr geholfen?
Danke Herr Mergener. Stoppt hoffentlich den nächsten Hype in der öffentlichen Diskussion in unserem Land. Wir haben anscheinend bald mehr militärische Sicherheitsexperten als Fußball Bundestrainer.
Merci!