Unter der Schirmherrschaft des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Daniel Günther kamen im September Hunderte von Experten zusammen, um Lösungen für eine der größten Gefährdungen in Nord- und Ostsee aufzuzeigen.
Der Meeresboden bietet Bodenschätze und eine Flora, die einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Regeneration der Atmosphäre leistet. Aber seit mehr als einem Jahrhundert ist er auch zur Aufnahmestätte für zivilisatorische Hinterlassenschaften geworden.
Während der Kiel Munition Clearance Week beschäftigten sich rund 500 Experten aus Politik, Wirtschaft, Umweltschutz, Wissenschaft und Marine, immerhin 150 davon vor Ort, mit einer speziellen Art von Müll. Es ging um die mehr als 1,5 Millionen Tonnen an Altmunition, die am Boden von Nord- und Ostsee einer eher zersetzenden Zukunft entgegensehen. Nicht nur, dass die Substanzen aus den Sprengstoffen ins Wasser gelangen und mittlerweile regelmäßig in Pflanzen und Tieren nachgewiesen werden. Über die Nahrungskette gelangen krebserregende Bestandteile sogar bis zum Menschen. Mehr noch: In seiner Keynote greift der Koordinator der Bundesregierung für die maritime Wirtschaft Norbert Brackmann die ökonomischen Aspekte auf: „Schiffsverkehr, Häfen, die Fischerei und der Tourismus am Meer sind von den Munitionsaltlasten im Meer betroffen. Sogar die Energiewende hat Berührungspunkte, da herumliegende Munitionsreste Offshore-Installationen und Seekabelverlegungen behindern.“
Zu den öffentlichen Repräsentanten an der Fachtagung gehörten die schleswig-holsteinischen Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung sowie Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus, Jan Philipp Albrecht und Bernd Buchholz, der Programmmanager beim Strategic Environmental Research and Development Program, Dr. David Bradley, Professor Dr. Katja Matthes, Direktorin des GEOMAR, sowie Professor Gabriel Felbermayr, Direktor des Instituts für Weltwirtschaft.
In acht Vortrags- und Diskussionsabschnitten wurde sich dem Thema genähert. Zu einzelnen Schwerpunkten tauschten sich die Expertinnen und Experten in einer Reihe von Workshops und Präsentationen aus. Breiten Raum fanden Technologien und Anwendungsmöglichkeiten zur Erkennung, Identifizierung und Verbringung der Munition, darunter die Möglichkeiten und Grenzen beim Einsatz autonomer und ferngesteuerter Unterwasserfahrzeuge. In einem Panel beschäftigten sich die Referenten mit dem Potenzial künstlicher Intelligenz bei Ortung und Klassifizierung. Die Beiträge der unterschiedlichen Stakeholder, die bei Suche und Entsorgung eine Rolle spielen, kamen ebenso zur Sprache wie die Finanzierungsmöglichkeiten der Erkennungs- und Entsorgungsmaßnahmen. Die Europäische Kommission hilft ihren Mitgliedsstaaten dabei, vorrangig mit Finanzmitteln, zum Beispiel für europäische Forschungsprojekte oder für die Zusammenarbeit der Regionen auf dem Gebiet der Altlastenbeseitigung.
Nicht nur in Deutschland sieht man die Notwendigkeit zum Handeln. Die Thematik ist im Europäischen Parlament anhängig. Für die EU-Kommission stellte Christos Economou, Referatsleiter Meerespolitk und ‚blaue Wirtschaft‘ in der Generaldirektion Maritime Angelegenheiten und Fischerei, dar, dass die Meeresschutz-Rahmenrichtlinie der EU alle Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, einen guten Zustand der Umwelt in den die Union umgebenden Gewässern zu bewahren oder durch geeignete Maßnahmen zeitnah herbeizuführen.
Eine führende Rolle bei der Beseitigung von Munitionsaltlasten in den europäischen Meeren fällt den nationalen Marinen der Mitgliedsstaaten zu. Die einzige Ausnahme bildet hier Deutschland.
Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach, Inspekteur der Marine, verwies auf die Erfahrungen, die seine Teilstreitkraft in über 60 Jahren machen konnte. Die deutsche Marine verfüge über einzigartige Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten, die bei der Ortung und Identifikation eingebracht werden könnten. Ebenso stellte er die Expertise bei der sicheren Sprengung von Munition, die aufgrund von Korrosion nicht geborgen werden kann, dar. Darüber hinaus könne die Marine auch Fähigkeiten in der Speicherung, Aufbereitung und Bereitstellung von Daten einbringen. „Lösen kann das Problem die Marine aber nicht allein, sondern es erfordert ein Alle-Mann Manöver in enger Kooperation mit dem Privatsektor und zuständigen Stellen und Stakeholdern.“ Er betonte, die Marine könne aufgrund der konstitutionellen Umstände zwar nur beitragen, da sie nur im Rahmen von Amtshilfeersuchen die Bundesländer unterstützen könne. Doch abschließend machte Schönbach auch ein Angebot: „Selbstverständlich wird die Deutsche Marine im Rahmen ihrer Möglichkeiten weiterhin die Lösung von Altlasten in der Ostsee unterstützen.“ Und versicherte: „…, dass wir als Marine an Ihrer Seite stehen werden.“
Von den deutschen Minensuch- und -abwehrfähigkeiten konnten sich die Konferenzbesucher am Nachmittag des 8. September einen persönlichen Eindruck machen. Das 3. Minensuchgeschwader aus Kiel und die Minentaucherkompanie des Seebataillons aus Eckernförde demonstrierten ihr Können und standen anschließend für Fachgespräche im Marinestützpunkt Kiel zur Verfügung.
Vorerst bleiben nur Worte
Der dringende Handlungsbedarf wurde den Konferenzteilnehmern mit einer kleinen Rechnung verdeutlicht: Zwischen 2013 und 2020 wurden insgesamt 26 192 nicht explodierte Munitionsteile (unexploded ordnance, UXO) entdeckt und geräumt. Würde man dabei jeweils eine 500-Pfund-Bombe annehmen, so summiere sich die Gesamtmasse auf 13 456 Tonnen. Oder anders ausgedrückt: In diesem Zeitraum ist es gelungen, jährlich rund 1682 Tonnen zu entsorgen. Bei gleichem Tempo wären folglich für die Beseitigung der 1,5 Millionen Tonnen Altmunition in Nord- und Ostsee 892 Jahre erforderlich.
„Nach diesem hochwertigen Austausch über die Fachgebiete hinweg, gilt es nun vom Reden ins Handeln zu kommen und die in der Tiefe schlummernde Gefahr zum Schutz von Meeresumwelt und Schifffahrt anzugehen und endlich zu beseitigen“ forderte zum Abschluss der Veranstaltung Jann Wendt, Initiator der ersten Kieler Munition Clearance Week und Geschäftsführer der north.io GmbH. Trotz aller Aufrufe blieb die von manchem Teilnehmer erwartete, bindende Absichtserklärung zum weiteren Vorgehen aus.
Es mangelte also nicht an Erkenntnissen und freimütigen Bekundungen. Beobachter konnten sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass es offensichtlich am Willen fehlt, tatsächlich etwas anzupacken. Ein untrügliches Zeichen hierfür war, dass von den fünf im Maritimen Cluster Norddeutschland zusammengeschlossenen Bundesländern einzig Schleswig-Holstein mit politischen Repräsentanten vertreten war.
Author: Hans-Uwe Mergener
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