Zum 175. Geburtstag schenkt sich die Deutsche Marine ein neues Zielbild. Vielen guten Ideen stehen jedoch ebenso viele Probleme entgegen.
Im 175. Lebensjahr der Deutschen Marine richtet der Inspekteur der Marine mit der Veröffentlichung ihrer zukünftigen Struktur den Blick nach vorn. Vizeadmiral Jan C. Kaack sagte im Interview mit den Kieler Nachrichten: „Im Zielbild 2035+ wollen wir einen großen Strauß aufmachen.“ Dabei geht es ihm nicht um Flaggenstöcke. Vielmehr soll die Marine zukunftsfähig bleiben.
Dies alles geschieht mit Blick auf die dramatischen Veränderungen seit dem Einmarsch russischer Streitkräfte in der Ukraine. Im Mittelpunkt stehen die Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung sowie die Auswirkungen des finnischen (und voraussichtlich demnächst auch schwedischen) NATO-Beitritts auf das Kräftedispositiv in der Ostsee. Hinzu kommt die absehbare Verstärkung der Probleme bei der Personalgewinnung durch demografische Umwälzungen, was zur Entscheidung für einen breiten Einstieg in unbemannte Systeme geführt hat.
Wobei die Marine mit unbemannten Systemen bereits über einiges an Erfahrung verfügt. Immerhin betreibt sie bereits seit dem Jahr 1981 ferngesteuerte Hohlstabräumgeräte der SEEHUND-Klasse. Während der Operation Südflanke wurden sie 1991 mit Erfolg im Persischen Golf eingesetzt. Die Unterwasserdrohne Seefuchs, international auch als SeaFox bekannt, ist nicht nur bei der Deutschen Marine, sondern auch bei zehn Partnern im Einsatz.
Neben der Reduzierung des Risikos für Leib und Leben bringen autonome Systeme den Vorteil mit sich, dass weniger Personal benötigt wird. Die defizitäre Personalentwicklung erfüllt die Marine schon lange mit Sorge. Im langjährigen Mittel beträgt das Personalfehl rund zwölf Prozent. Wobei die Personalgewinnung nicht annähernd die Erwartungen erfüllen kann. Im Zielbild 2035+ versucht die Marine durch Einsatz moderner Technologie, durch Reduzierung des Fuhrparks um eine Fregatte 125 und durch ein subtil ausgedrücktes Abrücken vom Mehrbesatzungskonzept, der Personalsituation Rechnung zu tragen. Insgesamt beläuft sich das Einsparpotenzial durch die Maßnahmen auf bis zu 1500 Personen. Was allerdings nicht bedeutet, dass sich damit der Personalbedarf der Marine reduziert. Vielmehr werden hier Kapazitäten geschaffen, die für neue Aufgaben, darunter die intelligente Steuerung der autonomen Seekriegsmittel, eingesetzt werden können.
Auf dem Weg zu einer „bedrohungsgerechten und demografiefesten Marine“ ließ Kaack „eine ausreichende Anzahl von Schiffen und Booten, Flugzeugen und Hubschraubern, die es erlaubt, Präsenz in den Operationsgebieten durchhaltefähig zu gewährleisten“ in das Zielbild der Marine ab 2035 aufnehmen.
Damit spielt er weniger auf die Anzahl als vielmehr auf die Verfügbarkeit der Seekriegsmittel an. „Unser Ziel ist ‚Route 66‘ – wir wollen 66 Prozent der Einheiten seeklar haben“, postuliert der Marinechef. Und so findet sich in der Zielstruktur ab 2035 die konsequente Anwendung der 3-zu-1-Regel, nach der sich jeweils ein Drittel der fliegenden, schwimmenden und tauchenden Einheiten in der Instandsetzung, in abgestufter und in voller Gefechtsbereitschaft befinden sollen. Für eine Einheit im Einsatz müssen damit drei Einheiten vorgehalten werden.
Der erwartete Modernisierungsschub soll nicht nur durch die geplanten autonomen Systeme oder Anpassungen an moderne Lagebilderfassung und Führungsfähigkeiten seinen Ausdruck finden. Er wird über die künftige Naval Combat Cloud, in der bemannte, optional bemannte und unbemannte Systeme vernetzt sein werden, hinausgehen. Die Marine will ein maritimes Technologiezentrum mit einem möglichen Standort Eckernförde etablieren. Vizeadmiral Kaack spricht von einer Task Force X-Ray, die für Experimente und Prototypen stehen soll. Mit dieser experimentellen Einrichtung sollen die Voraussetzungen zur Integration von neuen Systemen in den Betrieb geschaffen werden. Gleichzeitig soll sie die technisch-operative Weiterentwicklung ermöglichen.
Neue Wege möchte die Marine auch mit den Nachfolgern der Tender Klasse 404 gehen. Bislang waren sie als einfache Unterstützungsfahrzeuge geplant. Nach dem Zielbild 2035+ sollen die künftigen Unterstützungsplattformen nicht nur Bootsverbände versorgen können. Zu ihrem erweiterten Fähigkeitsspektrum gehören Versorgung in See, Drohneneinsatz (z.B. als Drohnenmutterschiffe), Verwundetentransport und das Verbringen von infanteristischen Kräften. Ein abgespecktes amphibisches Fahrzeug, wenn man so will. Auf alle Fälle modular ausgestaltete Plattformen, die an ihre jeweiligen Aufgaben angepasst werden können.
Noch ein weiter Weg
Mit dem Zielbild versucht die Marine, sich zukunftsfähig aufzustellen. Dazu werden mehrere Türen aufgestoßen. Neben einem größeren und fähigkeitsmächtigeren Dispositiv autonomer See- und Luftfahrzeuge, sind multi-domain operations und andere technologische Lösungen zu erkennen. Zudem findet seabed warfare Eingang. Kritische maritime Infrastruktur, erklärt Kaack im Interview mit der „FAZ“ „ist zwar nicht Zuständigkeit der Marine, aber letztendlich sind wir die Einzigen, die in dem Bereich etwas tun können. Was man aber machen kann, ist dass wir das bewährte Überwasserlagebild ergänzen durch einen Verbund von Kenntnissen unter Wasser. Die stammen einerseits von Sensoren und Aufklärung der Marine, anderseits von Forschung und Industrie. Es gibt viele Sonarbojen oder Sensoren, die etwa an jedem Windpark installiert sind und ständig Daten liefern. Wenn man das alles verknüpft, könnte man das Bild sehr viel dichter machen.“
Im Zielbild für die Marine ab 2035 wird die Bedrohung wieder zur Messlatte. Abschreckung und Verteidigung im Nordatlantik, in Nord- und Ostsee und deren Zugängen rücken in den Mittelpunkt.
Es sieht aus, als sei die Marine auf einem guten Weg. Doch noch ist die derzeitige Situation wenig rosig. „Am 24. Februar 2022 hatte ich 50 Prozent der Einheiten seeklar“, gestand Vizeadmiral Kaack den „Kieler Nachrichten“. Im Kontext des Zielbildes wird also noch vieles wachsen müssen.
Hans-Uwe Mergener
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