Vorweggenommenes Weihnachtsgeschenk oder letzter Versuch einer abgewählten Regierung, Pflöcke einzurammen? So oder so mutet die selbst für Eingeweihte überraschende Veröffentlichung von "Advantage at Sea. Prevailing with Integrated All-Domain Naval Power" wenige Tage vor dem Jahreswechsel und nur vier Wochen vor der Amtsübergabe von Donald Trump an Joe Biden merkwürdig an. Sei es drum: Die neue maritime Strategie der USA ist die nunmehr dritte nach 2007 und 2015, die von allen drei seegehenden Teilstreitkräften (TSK) ausgearbeitet und mitgezeichnet wurde. Navy, Marine Corps und Coast Guard unterstreichen das Selbstverständnis, "Warfighting First" zu unternehmen - das ist nichts weniger als die vollkommene Abkehr von CS-21 (2007), in der noch, wiewohl unter anderen weltpolitischen Vorzeichen, u.a. maritime Hilfeleistung, maritime Sicherheit und gute Ordnung auf See als strategische Beiträge auftauchten. "Advantage at Sea" setzt einen merklich anderen Tonfall, bereits beginnend mit dem Vorwort des Marineministers (und Konteradmirals a.D.) Braithwaite. Die Großmachtkonkurrenz mit China und Russland zieht sich wie ein roter Faden durch das Dokument, das in dieser Hinsicht wahrlich kein Blatt vor den Mund nimmt. Strategische Beiträge der US-Marine und der Marineinfanterie sowie der Küstenwache muss man zwischen den Zeilen lesen; es scheint dies ein Indiz dafür zu sein, dass die Zielgruppe des Dokuments nicht klar ausformuliert wurde. Ob der Kongress, der neue Präsident und sein künftiger Verteidigungsminister einfach klaglos mitziehen? Wohl kaum. Die gesellschaftliche Spaltung der Vereinigten Staaten von Amerika erreicht nun auch jene Bereiche, die bislang von einem überparteilichen Konsens profitierten, etwa die Belange einer starken Seemacht. Angesichts der kommenden umfangreichen Flottenerneuerung und dem projektierten Aufwuchs dürften Washington und den Seestreitkräften ohnehin ein kräftezehrendes Jahrzehnt bevorstehen.
Sebastian Bruns ist Verfasser der einschlägigen Studie "US Naval Strategy and National Security. The Evolution of American Maritime Power" (Taschenbuch, Routledge - London 2018). Einen kurzen Vergleich der beiden vorherigen Marinestrategien bietet er unter http://cimsec.org/cooperative-strategy-cs-21cs-21r-view-germany/16240.
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