Russische Fregatte "Admiral Essen", Start Marschflugkörper Kalibr. Foto: MoD Rus

Russische Fregatte "Admiral Essen", Start Marschflugkörper Kalibr. Foto: MoD Rus

Russischer Raketenbeschuss: aufschlussreiche Analyse in der NZZ

Die Neue Züricher Zeitung vom Dienstag, 11.10.2022, hat in einem interessanten Artikel den Raketenbeschuss der Ukraine durch russische Truppen analysiert, mit dem der Kreml offensichtlich Vergeltung für den bisher noch nicht der Ukraine zuweisbaren Sabotageangriff auf die Krimbrücke bei Kertsch nimmt, und kommt zu sehr aufschlussreichen Bewertungen, die hier in knapper Form zusammengestellt sind.

Zunächst zu den Auswirkungen: militärisch könnte der Ausfall von Teilen des Internets die ukrainischen Truppen tangieren, ansonsten sei auffallend, dass keine Schäden an logistischen oder Führungseinrichtungen der Streitkräfte veröffentlicht wurden, sondern ausschliesslich zivile Ziele zu beklagen seien. Kampfflugzeuge hätten sich nicht in den ukrainischen Luftraum gewagt, in dem sie ohnehin seit Beginn der Angriffskrieges keine Hoheit gehabt hätten.

Die Ukraine spricht von 84 Flugkörpern (43 abgewehrt) und 24 Kampfdrohnen iranischer Bauart, alle gestartet außerhalb ukrainischer Grenzen. Mit über 100 Raketen eine Angriffszahl, wie sie seit den ersten Tagen des Krieges nicht wieder erreicht worden war. Vor allem aber die Analyse des Waffenmixes zeige, dass Russland die passenden Raketen ausgingen.

See-/Landziel-Marschflugkörper "Kalibr"

Im Einzelnen

Der von Schiffen im Schwarzen Meer abgefeuerte Kalibr-Marschflugkörper (SS-N-30 Sagaris, seit 2015) sei der treffgenaueste auf eine Reichweite bis zu 1.500 Kilometern. Mit einem Gefechtskopf von 500 Kilogramm, geringer Flughöhe (50 bis 150 Metern über Land) und GPS-Steuerung seien Ziele in der gesamten Ukraine erreichbar. Die geschätzte Fertigungsrate von 120 und Stückkosten von 6,5 Millionen Dollar zwingen Russland jedoch zur Sparsamkeit, zumal im bisherigen Kriegsverlauf ein Großteil der Produktion vergangener Jahre verheizt worden sei. Im Übrigen: Der von der Regierung in Chisinau eingereichte Überflug-Protest lässt die Annahme zu, dass zwecks größerer Überraschung die in den den westlichen Teil der Ukraine gezielten russischen Cruisemissiles von See aus über Wegpunkte im moldawischen Korridor gesteuert wurden. Hochachtungsvoll, Ihre Schwarzmeer-Flotte!

Russischer Marschflugkörper Ch-101. Foto: MoD Russland

Der von Bomberflugzeugen bisher gezielt vorwiegend in Syrien eingesetzte, radarrückstrahlreduzierte Marschflugkörper Ch-101 (AS-23A Kodiak, seit 2013) kann aus Entfernungen von bis zu 3.000 Kilometern eingesetzt werden. Die Mehrzahl der etwa 13 Millionen Dollar teueren FK sei im Wolgadelta bei Astrachan gestartet. Westliche Dienste gehen von einer signifikanten Fehlerrate aus: 60 % kämen nicht im Ziel an. Das ist teuer und blamabel!

Russisches Waffensystem "Iskander-M", ballistisch, kurze Reichweite. Foto: esut/hpw

Die ballistischen Kurzstreckenraketen Iskander-M (SS-C-7 Southpaw / SS-C-8 Screwdriver, seit 2006) mit einer Reichweite von 50 bis 500 Kilometern folgen zwar einer Parabelbahn und sind weniger treffgenau, aber sie fliegen schneller (Mach 6) und sind schwer zu bekämpfen. Außerdem können sie von mobilen Rampen auch aus besetzten Gebieten gestartet werden. Ihre Produktionsrate soll allerdings lediglich bei 50 bis 60 Stück im Jahr liegen, sie koste aber nur 3 Millionen Dollar. Alles muss raus!

Russisches Flugabwehrsystem S-300. Foto: army-today.ru

Nachdenklich macht der Einsatz von Raketen des Flugabwehrsystems S-300 Triumf (SA-10 Grumble), dem veralteten Vorläufer der aktuellen S-400 (SA-21 Growler), der ebenfalls in der Vergeltungswelle am Montag mit „verfeuert“ worden sei. Auch Ladenhüter können Terror verbreiten!

Nicht überraschen dürfte allerdings auch der Einsatz der von Teheran mehrere hundertfach an Moskau gelieferten Kampfdrohnen iranischer Produktion. Sie stürzen sich mit 200 Kmh und Motorradgeknatter aus dem Luftraum auf ihre Opfer. Die Ukraine muss sich aber erst noch auf die anders gelagerte Bedrohung einstellen, denn diese Killerdrohnen sind relativ klein und schwer zu orten. Und einmal im Endanflug kaum mehr aus der Bahn zu werfen!

Iranische Killerdrohne "Shahed-136". Foto: mashregnews.ir

Summenzug

Nach Angaben aus Kiew hat Russland seit Beginn der Kampfhandlungen 3800 Raketen und Marschflugkörper auf ukrainisches Territorium gefeuert. Während in den ersten Tagen mit einer Kadenz von 60 gestartet wurde, waren es im zweiten Kriegsmonat wohl nur noch ein Drittel davon. Seither ist diese Frequenz weiter gesunken – bei unvermindert hoher Zahl militärischer Ziele auf ukrainischer Seite!

Engpass

Dort geht man von dem Verbrauch der Hälfte der gesamten russischen Raketenvorräte aus, bei der schnellen Iskander-M sogar von 80%. Legt man eine querschnittlich addierte Produktionsrate von 200 bis 300 Stück zugrunde, dann erscheinen diese Zahlen durchaus als schlüssig. Zudem erscheint eine Intensivierung der russischen Produktion schwierig aufgrund mangelnder Fachkräfte und ausbleibender Zulieferungen von westlichen Bauteilen und östlichen Microchips. Teheran steht mit Drohnen willfährig zur Seite.

Die nächsten Tage

Trotzdem – ein letztes Aufbäumen oder eine neue Qualität? Eine kleinteilige Analyse der kommenden Tage wird hochinteressante Aufschlüsse geben über eines der bestgehüteten Geheimnisse des Kreml – wie weit reicht das Arsenal des Aggressors wirklich.

 

12. Oct 2022 | 0 comments

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