Sehr geehrte Mitglieder der Marine-Offizier-Vereinigung
Wieder einmal stehen wir in Europa und der freien Welt an einer Zeitenwende. Bis zu Russlands Überfall auf die Ukraine am 24.02.2022 haben die meisten Menschen in Deutschland nicht geglaubt, dass ein großflächiger Angriffskrieg gegen ein anderes Land in Europa nach den Erfahrungen zweier Weltkriege noch vorstellbar wäre. Wir haben uns in der falschen Sicherheit gewogen, dass wirtschaftliche Verzahnung und ein ständiger Dialog Machtgelüste des russischen Präsidenten einhegen könnten.
Wir haben nach der Devise gehandelt: Was nicht sein darf, das nicht sein kann. Wir haben uns gründlich geirrt. Wir mussten feststellen, dass unsere westliche Werteordnung das eigentliche Ziel der Angriffe Putins und seiner Machtclique im Kreml ist. Nun lernen wir, dass die Verteidigung von Freiheit und Demokratie, die Verteidigung unserer grundlegenden Werte nicht zum Nulltarif zu haben sind. Deshalb werden trotz Corona-Pandemie, trotz hoher Energiekosten, trotz der überfälligen Investitionen in die Abwendung einer Klima-Katastrophe 100 Milliarden Euro zusätzlich in die Ausrüstung der Bundeswehr gesteckt. Wohlgemerkt in die AUSRÜSTUNG, nicht die Aufrüstung unserer in den letzten zwei Jahrzehnten kaputtgesparten Streitkräfte. Auch unsere Marine wird und muss davon profitieren. Ich bin mir ganz sicher, dass unter der Führung von Vizeadmiral Kaack die bestehenden Defizite nun zielgerichtet abgebaut werden. Die Marine, wie auch der Rest der Bundeswehr müssen sich wieder an ihrer Kampfkraft und ihrem Gefechtswert messen lassen.
Es geht jedoch auch darum, das Bewusstsein für die Gefahren, denen unsere Werteordnung, unser freies Leben ausgesetzt sind, wieder zu schärfen. Seit der deutschen Vereinigung und dem Fall des Eisernen Vorhanges haben wir uns an ein Europa ohne Grenzen, an das Recht, überall unsere Meinung frei äußern zu können, so sehr gewöhnt, dass wir uns eine andere Welt gar nicht mehr vorstellen konnten. Das Alternativmodell liefert uns gerade Russland mit der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung, mit drastischen Strafen für jegliche Opposition zur Einschüchterung der eigenen Bevölkerung, mit Morden und Mordversuchen an politischen Gegnern. Doch unsere westliche Werteordnung mit freier Meinungsäußerung und individuellen Freiheitsrechten wird nicht allein in Russland, sondern auch in China als Gefahr gesehen.
Ich bitte Sie alle, aktiv und vernehmbar in Diskussionen und Gesprächen, in Internetforen für den Schutz von Freiheit und Demokratie, für den Schutz unserer Werteordnung, für die Notwendigkeit einsatzfähiger Streitkräfte einzutreten und unsere Marine auch unter ihrer neuen Führung tatkräftig zu unterstützen.
Thorsten Kähler
Rear Admiral (ret.)
Vorsitzender der Marine-Offizier-Vereinigung
Sehr geehrter Herr Admiral Kähler,
wenn das „wir“ in Ihrem Artikel stehen soll für „die große Mehrheit des Volkes und der Bundeswehr/Marine“, so bin ich völlig Ihrer Meinung.
Sollte es aber bedeuten „wir alle zu 100 %“, so müßte ich widersprechen.
Es gab immer einen geringen Anteil von Leuten, die sich nicht von der allgemeinen Euphorie haben anstecken lassen. Nur wollte die in der Öffentlichkeit und innerhalb der Bundeswehr/Marine niemand hören und sie wurden als „Kalte Krieger“ und „Ewiggestrige“ abgekanzelt. Einer von diesen bin auch ich. Ich hatte in den 80ern kein Problem damit, meinen Dienst als Marineoffizier vom Einsatz her zu denken. Nur dies schien mir seelisch tragfähig genug für den Ernstfall.
Der russische Angriff vom 24.02.2022 hat mich geschockt, aber dies ist schnell der Erkenntnis gewichen, daß dieser Schritt angesichts der Vorgeschichte des Ukraine-Konflikts seit 2014 eigentlich irgendwann zu erwarten war. Insofern komme ich mir jetzt nicht so vor, als sei mir der langjährig tragende Boden unter den Füßen weggezogen worden.
Ich hoffe daher sehr, daß die „Zeitenwende“ kein Strohfeuer bleibt und Streitkräfte in unserem Land ein für alle Mal als Vorsorgemittel zur eigenen Sicherheit begriffen werden, die man sich immer hält, nicht nur wenn es rundum nach Pulver riecht, und die immer adäquat ausgerüstet sind und regelmäßig auf dem neuesten Stand gehalten werden, auch und gerade in „ruhigen“ Zeiten. Wie wir jetzt gesehen haben, kann niemand verläßlich vorhersagen, wie lange die „ruhigen Zeiten“ jeweils andauern. Und das Kippen der Lage kann über Nacht kommen – so wie gerade erlebt.
Für dieses Ziel werde ich in der Öffentlichkeit auch künftig mit Nachdruck argumentieren.
Yours sincerely
Matthias Roesner, KptLt d. Res., Crew 07/82