Die Weltwirtschaft ist zu großen Teilen auf die Arbeit von Seeleuten angewiesen, Foto: Adobe Stock

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Im Stich gelassen

Können Sie sich vorstellen jeden Tag zur Arbeit zu gehen, samstags und sonntags, sieben Tage die Woche und das neun Jahre am Stück ohne Unterbrechung und ohne Bezahlung? Kaum vorzustellen, dass genau dies dem syrischen Schiffsingenieur Abdul Nasser Saleh gegen seinen Willen wiederfahren ist. Der Mann war seit 2012 dauerhaft über 12 Jahre hinweg an Bord des tansania-geflaggten Schiffes Al Maha tätig und wurde über die Jahre immer wieder von seinen saudi-arabischen Schiffseignern wegen fehlender Lohnzahlungen hingehalten und sogar bedroht, würde er das Schiff verlassen, würden alle Lohnansprüche verfallen. Die Schiffseigner und der verantwortliche Flaggenstaat Tansania hüllen sich bis heute in Schweigen und ignorieren bestehende Gehaltsklagen, die für Saleh und weitere Besatzungsmitglieder eingeleitet wurden. Die Lohnansprüche von Saleh belaufen sich bis heute auf 178 000 US-Dollar, was einer Arbeitszeit von neun Jahren entspricht.

Es ist traurig, dass ein solcher Fall moderner Sklaverei, trotz gültiger UN-Konventionen zum sicheren Arbeiten und Leben auf See im Jahre 2024 noch vorkommt und bei weitem kein Einzelfall ist. Wie kann das überhaupt sein?

Zum einen liegt es daran, dass einige wenige Staaten das Seearbeitsübereinkommen (engl. Marine Labour Convention), welches 2013 in Kraft getreten ist nicht unterschrieben und ratifiziert haben. Stand 2025 unterliegen jedoch mit 108 ratifizierten Staaten 96,6% der weltweiten Handelsschifftonnage dem Seearbeitsübereinkommen, was diese Staaten völkerrechtlich verpflichtet Minimalanforderungen in Bezug auf Arbeitsbedingungen, medizinische Versorgung und Unterbringung an Bord zu erfüllen. Im Übrigen hat auch Tansania das Seearbeitsübereinkommen ratifiziert und ist demnach gegenüber den unter seiner Flagge fahrenden Schiffen verantwortlich für dessen Durchsetzung und Einhaltung.
Das Problem liegt im System der Flags of Convenience verborgen (FoC). Diese werden auch als offene Register oder auch „Billigflaggen“ bezeichnet und ermöglichen es ausländischen Reedern ihr Schiffe zu registrieren und somit Lohn-, Sozial- und andere Kosten zu sparen. Normalerweise ist es nach dem Seerechtsübereinkommen vorgesehen, dass ein sogenannter „genuine-link“, also eine „echte-Verbindung“ zwischen dem Flaggenstaat und dem Schiffseigner besteht. Einfach gesagt, das Schiff einer deutschen Reederei hat auch die deutsche Flagge zu führen und es gelten in allen Belangen die deutschen Gesetze. Das dies in der Praxis kaum Anwendung findet ist fast unnötig zu erwähnen. Fast alle Reedereien weltweit beflaggen ihre Schiffe in Staaten mit offenen Schiffsregistern, die geringere Löhne und geringere Arbeitssicherheitsstandards usw. vorschreiben um Geld zu sparen. Rechtlich möglich ist dies durch Artikel 10 des Seerechtsübereinkommens, in welchem der „genuine-link“ als gegeben definiert wird, sobald schon eine Tochterfirma der Schiffseigner einen Firmensitz im Flaggenstaat betreibt. Aus diesem Grund gibt es wohl auch viele Briefkästen in Tansania.

Natürlich haben nicht alle dieser Flags of Convenience einen schlechten Ruf und auch nicht alle Schiffsbetreiber die ihr Schiffe ausflaggen behandeln ihre Besatzungen abscheulich. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass auf vielen Schiffen Missstände herrschen und sich viele Flaggenstaaten und Betreiber aus der Affäre zu ziehen versuchen, sobald es zu rechtlichen Vorwürfen kommt. Teilweise werden die Briefkastenfirmen einfach aufgelöst und ganze Schiffe und deren Besatzungen werden ohne Bezahlung, ohne Verpflegung und ohne jegliche Hilfe auf See, vor Reede oder in Häfen zurückgelassen. Zugehörige Flaggenstaaten, die wie Tansania dafür bekannt sind, geltendes Recht auf ihren Schiffen kaum durchzusetzen, schließen die Augen und kommen ihrer Verantwortung nicht nach. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die wirtschaftlichen Vorteile für solche Staaten – etwa durch Einnahmen aus der Registrierung der Schiffe – größer sind als der politische Druck für bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen. Solche Konflikte werden teilweise in langwierigen Prozessen über Jahre und Jahrzehnte hinweg auf den Schultern der Seeleute ausgetragen und es gibt kaum Möglichkeiten diese zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF), ein global agierender Zusammenschluss von Gewerkschaften und führende Stelle als Vertretung für die Rechte von mehr als 1 Millionen Seeleute, setzt sich dafür ein, dass diese Missstände aufgedeckt und bekämpft werden. Doch die Zahlen sprechen eine alarmierende Sprache: Die Anzahl der zurückgelassenen Seeleute steigt jährlich drastisch an. 2024 wurde mit über 3.100 Fällen ein trauriger Rekord erreicht. Immer häufiger werden Schiffe ohne Flagge aufgegriffen, deren Besatzungen vollkommen sich selbst überlassen wurden. Es handelt sich um eine Form moderner Sklaverei, die in dem wichtigsten Wirtschaftssektor der Welt ungehindert fortbesteht.
Solange das System der Flags of Convenience nicht grundlegend überarbeitet wird, bleibt es für skrupellose Schiffseigner ein leichtes Spiel sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Die mangelnde Durchsetzungskraft internationaler Abkommen und die Gleichgültigkeit verantwortlicher Flaggenstaaten bieten weiterhin Nährboden für die Ausbeutung von Seeleuten. Um diese Entwicklung zu stoppen, bedarf es einer strikteren Kontrolle der Flaggenstaaten sowie harter Sanktionen gegen Reedereien, die ihre Besatzungen im Stich lassen. Ebenso müssen Hafenstaaten eine stärkere Rolle übernehmen und Schiffe mit auffälligen Missständen konsequent festsetzen. Nur wenn internationale Abkommen nicht nur existieren, sondern auch effektiv durchgesetzt werden, kann eine nachhaltige Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf See erreicht werden.

Die Weltwirtschaft ist zu großen Teilen auf die Arbeit von Seeleuten angewiesen – und doch genießen sie kaum Schutz. Es liegt an der internationalen Gemeinschaft, diesem Missstand mit Nachdruck entgegenzuwirken. Denn solange wirtschaftliche Interessen vor Menschenrechte gestellt werden, bleibt das Schicksal von Arbeitern wie Abdul Nasser Saleh nur eines von vielen tragischen Beispielen für ein System, das dringend reformiert werden muss.
Kapitänleutnant Felicitas van Daake ist Angehörige der Marinetechnikschule.

Felicitas von Daake

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