Nach der Zeitenwende muss sich Deutschland von seiner dogmatischen Außenpolitik verabschieden.
Wohl kein Begriff wurde in diesem Jahr in der Berichterstattung so überstrapaziert wie „Zeitenwende“. Kaum ein publizistischer Beitrag mit auch nur erweitertem sicherheitspolitischem Kontext kommt ohne ihn aus. Fälschlicherweise wird Zeitenwende dabei fast ausschließlich im direkten Kontext, wenn nicht gar synonym, mit dem 100 Milliarden Euro umfassenden Sondervermögen für die Bundeswehr verwand. Dies greift nicht nur viel zu kurz, es ist auch gefährlich. So wünschenswert, überfällig und nötig eine vollausgestattete Bundeswehr für Deutschland auch ist, ohne die nötige breite gesellschaftliche Debatte über das künftige sicherheitspolitische Selbstverständnis Deutschlands und eine grundlegende Änderung des politischen Mindsets droht das Sondervermögen zu verpuffen. Im schlimmsten Fall haben wir in vielleicht zehn Jahren eine vollausgestattete Bundeswehr, üben uns aber weiterhin in sicherheitspolitischer Selbstverzwergung und innenpolitischer Nabelschau. Das Sondervermögen wäre dann beispielsweise für die Integration (ukrainischer) Kriegsflüchtlinge oder Reformen im Bildungs- und Gesundheitssektor nachhaltiger investiert worden! In einem Gastbeitrag für die US-Zeitschrift „Foreign Affairs“ – bezeichnenderweise mit „The Global Zeitenwende“ betitelt – betonte Bundeskanzler Olaf Scholz kürzlich abermals Deutschlands Anspruch, künftig der zentrale sicherheitspolitische Pfeiler Europas sein zu wollen. Starke Worte in der Fremde, während die Politik (nicht nur der Ampel) zuhause der Gesellschaft eine offene Debatte über die Konsequenzen dieser Ambitionen bisher vorenthält. Das Militär ist die Ultima Ratio der Politik. In Deutschland wurde dies jahrzehntelang fälschlicherweise mit „letztes Mittel“ über- und mit Scheitern gleichgesetzt. Wenn die Politik scheitert, dann ist das Militär die Folge – und dieses gilt es unter allen Umständen zu verhindern. Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik, so das Dogma. Korrekt übersetzt heißt Ultima Ratio allerdings das „äußerste Mittel“ und als solches muss das Militär künftig in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik stets als eine von vielen möglichen Optionen mitgedacht werden. Deutschland muss also nicht nur fähig, sondern vor allem politisch und gesellschaftlich willens werden, militärische Macht anzudrohen und letztendlich auch einzusetzen. Gemäß unserer Tradition im Bündnis oder mit Partnern. Aber nimmt sich der Kanzler selbst beim Wort, muss Deutschland sich sicherheitspolitisch vom Bremser zum Treiber wandeln – eine Transformation mit politischem und gesellschaftlichem Sprengstoff. Auch institutionell werden wir gewohnte und bequeme Pfade verlassen müssen. UN-Mandate als Grundlage für Bundeswehreinsätze durch den Bundestag werden auf absehbare Zeit ausfallen, da die ständigen Sicherheitsratsmitglieder China und Russland ihre geostrategischen Interessen immer öfter gefährdet sehen und entsprechend ihr Veto einlegen werden. Wachsende Spannungen innerhalb der EU (Ungarn) und der NATO (Türkei) lassen auch hier einstimmige Mandate unwahrscheinlicher werden. Gleichzeitig wird „der Westen“, und damit Deutschland, als sicherheitspolitischer Akteur gefordert bleiben. Eine selbst proklamierte wertegeleitete Außenpolitik wird es daher nötig machen, zum Schutz von Freiheits- und Menschenrechten zukünftig weniger auf völkerrechtliche Institutionen zu setzen. Ad-hoc-Koalitionen von willigen und fähigen Staaten wird eine stärkere Rolle zukommen. Von einem selbsternannten Eckpfeiler europäischer Sicherheitspolitik darf man zurecht erwarten, dass er sich solchen Koalitionen nicht nur anschließt, sondern sie im Bedarfsfall selbst initiiert und anführt. Dies wäre eine wirkliche Zeitenwende in der Mandatierung von Bundeswehreinsätzen. Grundlage solcher Entscheidungen sollten die in der nationalen Sicherheitsstrategie abgeleiteten und definierten deutschen außen- und sicherheitspolitischen strategischen Interessen sein. Man darf gespannt sein, ob das zur Veröffentlichung anstehende Papier diesem Anspruch gerecht wird.
Johannes Peters ist Abteilungsleiter Maritime Strategie und Sicherheit am Institut für Sicherheitspolitik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Johannes Peters
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