Unter dem Titel "Ships Are Flying False Flags to Dodge Sanctions" erschien am 30. Januar 2023 ein Artikel der Kolumnistin Elisabeth Braw im Magazin "Foreign Policy", dessen wichtigste Aussagen hier zusammengefasst sind.
Eigentum - Register - Flagge
Elisabeth Braw stellt eingangs fest, dass das Schiffseigentum dieser Welt unter den Ländern ungleich verteilt ist: Die drei Länder mit den umfangreichsten Reedereien sind China, Griechenland und Japan. Aber keines dieser Länder zählt zur Spitze der Länder, unter deren Flaggen all diese Schiffe auch tatsächlich zur See fahren! Auch die viertplatzierten Vereinigten Staaten oder das fünftplatzierte Deutschland gehören nicht dazu.
Flag of Convenience
Angeführt werden die Flaggenstaaten von Panama, Liberia und den Marshallinseln. Als wirtschaftlich schwache Länder bieten sie Eigentümern an, sich für eine viel niedrigere Gebühr in ihr Schiffsregister einzutragen, als dies in Industriestaaten möglich wäre - daher die Bezeichnung "Billigflaggenstaaten". Das bedeutet aber auch weniger Service und auch deutlich weniger Kontrollen. Ersteres hat die "flag-of-convenience states" aus Kostengründen in den letzten Jahrzehnten bei zahllosen Schiffseignern beliebt gemacht. Letzteres macht sie jetzt äußerst attraktiv für Schiffe, die westliche Sanktionen gegen Russland umgehen wollen. Zu beobachten sei - so "Foreign Policy" -, dass eine Anzahl von Schiffen in die Billigflaggenstaaten gewechselt haben, zum Teil auch ohne dies dem Staat gegenüber anzuzeigen. Das fällt in den maritimen Kleinstaaten bei überforderter Administration oft sogar nicht einmal auf, weil Personal und Mittel fehlen, um sogenannte illegale "Flaggenbesetzer" zu erkennen und Maßnahmen gegen sie zu ergreifen. Stattdessen durchstreifen Seelenverkäufer, die eigentlich auf direktem Weg zum Abwracken unterwegs sein sollten, die Weltmeere. Sie bringen Öl aus Russland und den beiden anderen sanktionierten Ländern Venezuela und Iran vornehmlich nach China, aber auch zu anderen Kunden. Und keiner unternimmt etwas dagegen - bis es zu einer Katastrophe kommt!
Ausflaggen
Michelle Wiese Bockmann, Seeverkehrsanalystin von Lloyd’s List Intelligence, London, erklärte gegenüber "Foreign Policy", wie das funktioniert.
Um Sanktionen zu umgehen wenden sich Reedereien an kleine, privat verwaltete Flaggenregister und geben irreführenderweise an, dass nunmehr ihre Schiffe dort geflaggt seien, wohl wissend oder vermutend, dass das Land nichts dagegen unternehmen wird.
Oder sie flaggen die Schiffe dort rechtmäßig aus und bringen das Land dazu, falsche IMO-Unternehmensnummern auszustellen, denn jede Reederei hat eine Identifikationsnummer bei der International Maritime Organization.
Eine weitere Variante besteht darin, dass eine Reederei oder ein Schiff, das unterwegs nicht erkannt werden möchte, das Register eines Flaggenstaates insofern hintergeht, als sort gefälschte IMO-Nummern bei der Anmeldung angegeben werden. Und da die Schifffahrtsregister von Billigflaggenstaaten personell oft schlecht ausgestattet sind, oder auch privat verwaltet werden - vielleicht sogar beides -, verbringen Beamte und Angestellte selten ernsthaft Zeit damit, IMO-Nummern zu verifizieren. Und Reedereien, die unter falscher IMO-Nummer operieren, lassen sich nur sehr schwer ausfindig machen.
Am Anfang stand Iran
Festgestellt wird auch, dass das Ausflaggen zwecks Umgehung von Sanktionen seit etwa einem Jahrzehnt durchgeführt wird. Zu dem Zeitpunkt nämlich bemerkte die staatlich iranische Ölgesellschaft, dass sie Beschränkungen für ihr Öl umgehen konnte, indem sie die Schiffe ihrer Reedereien bei dem von Tansania und Sansibar geführten Doppelregister notieren ließen. Diese Kuriosität stammte das noch aus der Zeit, als Sansibar unabhängig war und noch nicht zu Tansania gehörte. Das "Parken" iranischer Tanker im Doppelregister war zwar nicht ganz legitim, aber es geschah mit Wissen der Privatfirma, die das Register verwaltete. Und so gelang es dem Iran, weiterhin ausreichend Öl zu exportieren, ohne es Öl zu nennen, denn ein Billigflaggenstaat interessiert sich nur recht selten für die Fracht der Schiffe. Und da es auf der Welt keine internationale Schifffahrtsbehörde gibt, die jedes einzelne Schiff verfolgen kann, insbesondere wenn es seine Flaggenregistrierung durch gelegentlichen Wechsel zu verschleiern versucht, werden fröhlich mühsam errungene Sanktionen "umschifft"!
Russland zieht nach
Iran hat damit angefangen, Venezuela hat es kopiert - und es stellte sich als perfekte Vorlage für Russland heraus. Heute ist "Flaggenhüpfen" der angesagteste Trend. Auch geringfügig zahlende Neuankömmlinge sind herzlich willkommen in Tansania, Samoa, Nauru, Belize, den Cookinseln, Gabun, Palau, Kiribati, St. Kitts und Nevis, Sierra Leone, Kamerun, Guyana, Komoren, São Tomé und Príncipe sowie Mikronesien.
Gewinn und Risiko
Enorme Mengen sanktionierten Rohöls aus dem Iran, Venezuela und Russland - schätzungsweise 2 Millionen Barrel - verlassen täglich die Terminals an Bord mysteriöser Tanker unter den Flaggen unwissender oder unaufmerksamer Billigflaggenstaaten.
Die meisten Tanker sind für China bestimmt, was bedeutet, dass China im Alleingang einige der strengsten Sanktionen des Westens gegen Russland untergräbt, folgert Elisabeth Braw von "Foreign Policy". „Die Taktik der Reedereien hat sich in dem Maße weiterentwickelt, wie sich die Außenpolitik der Vereinigten Staaten verändert hat.“, sagte Bockmann bei Lloyds. „Schiffseigner verdienen Milliarden von Dollar mit dem Transport dieses Öls und sind bereit, das Risiko einzugehen.“
Moral und Rechenschaft
China wurde bisher von den Vereinigten Staaten noch nicht zur Rechenschaft gezogen. In dem Falle würde Peking nämlich argumentieren, dass es nicht verpflichtet sei, US-Sanktionen gegen Russland, den Iran, Venezuela oder irgendein anderes Land zu befolgen. Und weder die IMO noch irgendeine andere Behörde scheinen darauf erpicht zu sein, den Laden wirklich aufzuräumen zu wollen. Ein IMO-Rechtsausschuss untersucht zwar das Problem, aber sein Bericht wird erst im nächsten Jahr erwartet.
Gefahren ohne Absicherung
Die Autorin sieht durch das aktuell feststellbare und gezielte Unterlaufen der Sanktionen das ohnehin fragile System der Schiffsregistrierung am Rande des Zusammenbruchs. Das mache die Schifffahrtsrouten weltweit zu einem gefährlichen "Pflaster". Denn unter den Tankern, die sanktioniertes Öl nach China und zu anderen Kunden transportieren, befinden sich Dutzende von ausgedienten Very Large Crude Carriers (VLCCs). Wie alle anderen Tanker, die sanktioniertes Öl geladen haben, können auch diese Schiffe nicht die Versicherungen abschließen, die normalerweise für solche kritischen Transporte zwingend erforderlich wären.
Versicherung ohne Wert
Passenderweise bieten die Regierungen Russlands und des Irans solchen Tankern jetzt ihre eigenen Versicherungen an. Sie tun dies, weil sie bereits aktiv von Sanktionen betroffen sind und sich keine Gedanken über weitere Bestrafungen machen müssen. Ganz im Gegensatz zu westlichen Versicherern, die bei einem festgestellten Sanktionierungsverstoß von ihren eigenen Regierungen massiv zur Rechenschaft gezogen werden können.
Ist der Ruf erst ruiniert
Es sollen auch bereits Scheinversicherer aufgetaucht sein, so Bockmann, die völlig echt aussehende Zertifikate ausstellen, die bedenkenlos von den Hafeninspektoren akzeptiert werden – aber natürlich keinen Pfennig wert sind. Aber auch die Registerbüros, denen plötzlich jede Menge bekannter und unbekannter neuer Kunden zulaufen, scheinen ebenfalls wenig Interesse daran zu haben, aufzuräumen – hauptsächlich, weil sowohl unternehmerisch als wahrscheinlich auch persönlich viel Geld dabei die Hände wechselt.
Ein Beispiel
"Foreign Policy" berichtet dazu von einem Beispiel: Letzten Oktober lief die VLCC "Saint Light", früher bekannt als "Young Yong", vor der Küste Indonesiens auf Grund. Es stellte sich heraus, dass der unter Dschibuti-Flagge fahrende Tanker tatsächlich in Verbindung stand zu einem ukrainischen Händler, der sich mit dem Schmuggel von venezolanischem und iranischem Öl einen Namen gemacht hatte. Havarie und Herkunft der "Saint Light" wurden zu einer solchen Verlegenheit, dass Dschibuti den Tanker kurzerhand ausflaggte. Heute ist der "scheinheilige" Riesentanker auf Barbados registriert, wo man auf gezieltes Nachfragen nur abkanzelnde Antworten erhalte.
Tankerschlange vor dem Bosporus
Bereits vor Weihnachten führten die EU-Sanktionen dazu, dass Öl aus russischen Häfen - auch wenn es kasachisches Öl war, das über russische Schwarzmeer-Häfen ausgeführt wurde - nur dann über den Bosporus das Seegebiet verlassen durfte, wenn es für unter 60 Dollar das Barrel eingekauft und bei einem europäischen Versicherer gegen Gefahren und Gefährdungen abgesichert war. Ankara bestand in der unklaren Lage auf entsprechenden brieflichen Dokumenten der Versicherer, was zu mehrtägigen Wartezeiten und einem Stau von über 20 Tankern mit mindesten 18 Millionen Barrel Rohöl vor der Ausfahrt aus dem Schwarzen Meer führte. Die Ladungen gingen zwar in alle Welt, aber der Großteil war für Europa vorgesehen, wo russisches Öl vor der Sperrung stand, kasachisches Öl aber angelandet werden durfte - auch wenn es über Novorossiysk kam. Der Stau löste sich auf, aber die Situation weist eindringlich auf die aktuelle Unsicherheit im Frachtverkehr auf See hin.
Besatzungen als Opfer
Die gesetzlosen Tanker werden von Besatzungen von bis zu 30 Personen gefahren, die ebenfalls in einem legalen Niemandsland auf dem Meer leben. Wenn ihnen etwas zustößt, wird der Billigflaggenstaat, nicht zu Hilfe kommen. Bockmann kommt zu dem Schluss, die Situation sei nunmehr so verfahren, dass „das Einzige, was irgendjemanden zum Handeln veranlassen könnte, nur noch die enorme Krise einer massiven Ölpest sei“.
Rettung - durch Katastrophe oder Amateure?
Elisabeth Braw geht davon aus, dass eine Öl-Havarie mit einem sanktionsbrechenden Tanker sogar noch schlimmer wäre, als die Katastrophe der Exxon-Valdez selbst: Es gäbe in diesem Fall weder einen Versicherer, noch einen Flaggenstaat, der einen Teil des Schadens auffangen könne. Die größte Hoffnung der Welt bestehe darin, so Bockmann appellierend, dass die wachsende Zahl von Open-Source-Intelligence-Enthusiasten weiterhin fleißig mysteriöse Flotten verfolge. In den letzten Jahren haben Open-Source-Rechercheure – vom Angestellten betroffener Unternehmen bis hin zum Hobbydetektiv – enormes Wissen über alle Arten von zwielichtigen Aktivitäten generiert, indem sie einfach offen zugängliche Quellen sorgfältig überwacht haben. So wie sie bisher beispielsweise regelmäßig die Aktivitäten russischer Einheiten auf den Kriegsschauplätzen in der Ukraine verfolgt hätten, sollten jetzt deutlich mehr von ihnen ihre fachkundigen Augen auf die Zehntausende von Schiffen richten, die auf den Weltmeeren fahren, insbesondere auf diejenigen, die sich seltsam verhielten. Die 300 von Bockmann bei Lloyds List Intelligence aufgespürten Tanker seien in dieser Sache vermutlich erst der Anfang.
Quellen: Bloomberg, Foreign Policy, gCaptain, Hansa, Maritime Executive, Neue Züricher Zeitung
Hintergrund
Das Schiffsregister gibt wie ein Grundbuch an Land Auskunft über Eigentum und rechtliche Verhältnisse bezüglich der eingetragenen Schiffe, die dann auch berechtigt oder verpflichtet sind, die Flagge des "Flaggenstaates" zu führen. Gemäß Art. 91 des Seerechtsübereinkommens der UN (Teil des Seevölkerrechts) besitzen Schiffe die Staatszugehörigkeit des Staates, dessen Flagge zu führen sie berechtigt sind. Das bedeutet, dass auf diesen Schiffen die Rechtsordnung des Flaggenstaates gilt. Sie unterstehen auf der Hohen See der ausschließlichen Hoheitsgewalt dieses Staates, bilden jedoch keinen Teil von dessen Staatsgebiet. (Wikipedia)
Von amtlichen Registern zu unterscheiden sind Klassifikationsgesellschaften wie z. B. Bureau Veritas,Lloyd’s Register of Shipping, DNV GL, wie auch American Bureau of Shipping oder Registro Italiano Navale, bei denen es sich um technische Prüforganisationen handelt, die die Einhaltung von Standards und Normen sowie behördlicher Auflagen beim Bau und Betrieb von Schiffen überwachen. (Wikipedia)
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