Das maritime Fundament europäischer Wehrhaftigkeit und gesamtstaatlicher Resilienz ist heute bedeutsamer denn je. Seine Sicherung ist lebenswichtig für ein freies Europa.
Im Gegensatz zu den USA gibt es in Europa keine vorgehaltenen Frachtschiffe für den nationalen Notfall. Es gibt Verträge für die Nutzung von Handelsschiffen für strategische Logistik – dimensioniert für militärische Transportaufgaben bei Auslandseinsätzen, nicht für die Versorgung Europas im Verteidigungsfall. Und schaut man sich das grob geschätzte Frachtaufkommen selbst einer Kriegswirtschaft an, reicht die stark geschrumpfte amerikanische Reserve Fleet von heute nicht mal für eine Seite des Atlantiks aus.
Wo vor einigen Jahrzehnten noch ein gewisses Maß an nationaler Handelsschifffahrt, Schiffskapazitäten und Besatzungen eine souveräne Grundversorgung ermöglicht hat, werfen Schiffe im Besitz von Briefkastenfirmen, ausgestattet mit Besatzungen und Flaggen aus Drittstaaten sowie gebaut und finanziert in China, große Fragen für den verlässlichen Zugriff im Notstand auf. Wie sehr können sich Deutschland, die EU und die NATO darauf verlassen, dass an Tag 30, 200 oder 1000 eines Kriegs nicht nur Schiffe für militärische Logistik verfügbar sind, sondern auch, um die Wehrhaftigkeit und Resilienz der gesamten Gesellschaft in Europa aufrechtzuerhalten?
Mit glaubwürdiger Abschreckung als verlässlichstem Weg für dauerhaften Frieden rückt die Versorgung der europäischen Halbinsel auf dem Seeweg wieder in den Fokus. Die Aufgabe ist zu groß, als dass sie ein Verbündeter allein leisten könnte. Es bedeutet mehr als militärisch Seeverbindungslinien zu schützen: Im Zweifel fehlen Schiffe und Besatzungen, um überlebenswichtige Güter auf diesen Routen zu transportieren.
Europas Resilienz hängt von globalen maritimen Lieferketten ab, nicht nur von militärischen Transporten über den Atlantik. Ohne Importe von Energiegütern – Öl, Kohle, Gas – aber auch weiteren kritischen Rohstoffen und Waren wie Eisenerz, Stahl, Aluminium oder Kupfer, sind die EU-Staaten nicht durchhaltefähig in einem länger anhaltenden Krieg. Und diese Güter sind die offensichtlichen, die in großen Mengen per Schiff weiterhin ankommen müssen. Auch bedeutet jeder europäische Offshore-Windpark, der im Verteidigungsfall zur Verfügung steht, nicht nur eine von Importen unabhängige Energiequelle, sondern stellt – gut in die Sicherheitsarchitektur integriert – einen wertvollen strategischen Vorposten weit vor der Küste dar.
Dauerhaft tragfähige Kriegswirtschaft gehört zur glaubwürdigen Abschreckung – und ohne gesicherte Versorgung auf dem Seeweg ist sie für Europa undenkbar. Sowohl die Kriegsführung in der Ukraine als auch das bisherige Verhalten der Verbündeten deuten darauf hin, dass ein Krieg mit Russland nicht schnell vorüberginge – ein konsequenter Gegenangriff der NATO stünde immer unter der Sorge nuklearer Eskalation. Auch birgt die enge Kooperation Russlands mit China, dem Iran und Nordkorea die Gefahr, dass die Gegenseite ihrerseits lange durchhält.
Eine europäische Gesamtstrategie für die gegenwärtige geopolitische Eskalation erfordert eine globale maritime Komponente: Glaubwürdige Abschreckung braucht durchhaltefähige gesamtstaatliche Resilienz – und die gibt es nur, solange genügend Schiffe mit der richtigen Fracht in europäischen Häfen ankommen. Dazu gehört der Schutz dieser Schiffe vor hybriden Bedrohungen oder relativ einfach zu orchestrierenden Angriffen, wie sie die Huthi im Jemen erfolgreich vormachen, und es umfasst die kooperative und im Zweifel drohende, wirksame Präsenz schlagkräftiger Seestreitkräfte, um Diplomatie und Handel zu flankieren.
Nicht zuletzt braucht es eine verlässliche Transportfähigkeit für Warenströme, die die europäischen Verbündeten am Leben und handlungsfähig erhalten. In all diesen für Europa strategisch wichtigen Aspekten braucht es innovative, disruptive Lösungsansätze – für business as usual ist schlicht keine Zeit mehr.
Korvettenkapitän d.R. Dr. Moritz Brake ist Gründer von Nexmaris und Atalantica sowie Senior Fellow des interdisziplinären Forschungszentrums Cassis der Universität Bonn.
Moritz Brake