Die Seeschifffahrt ist das Rückgrat des Welthandels, wie sich auch gerade in der Pandemie wieder deutlich gezeigt hat. Noch immer ist die deutsche Handelsflotte die insgesamt fünftgrößte der Welt. Mit 16,4 Prozent der weltweiten Kapazität stellt Deutschland sogar die größte Containerflotte der Welt. Ende 2020 befanden sich 1844 Handelsschiffe im Eigentum deutscher Reedereien. Diese Reedereien stellen direkt in Deutschland 86 000 Arbeitsplätze. Weltweit beschäftigen sie immerhin 480 000 Menschen. Deutschland hat eine moderne, auf Hochtechnologieprodukte spezialisierte Schiffbauindustrie. Die Wertschöpfung eines in Deutschland gebauten Schiffs wird zu 70 bis 80 Prozent von der national ansässigen mittelständischen Zulieferindustrie erbracht, deren Standorte über ganz Deutschland verteilt sind. Die Schiffbau- und Zulieferindustrie erreicht jährlich einen Produktionswert von mehr als 23 Milliarden Euro und liegt damit noch auf Platz 5 im internationalen Vergleich.
Trotzdem spielt die maritime Branche in der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung nur eine geringe Rolle – was einer der Gründe dafür ist, dass uns immer mehr maritimes Know-how in Deutschland verloren geht.
Ein weiterer Grund ist der Abbau deutschen Personals, der mit dem Ausverkauf deutscher maritimer Traditionsunternehmen einhergeht – zuletzt der Aufkauf der 1871 gegründeten Traditionsreederei Hamburg Süd mit ihren 105 Schiffen im Jahr 2017 durch Maersk und die Fusion und spätere Übernahme des Germanischen Lloyd durch Norske Veritas. Rund 84 Prozent der Schiffe im deutschen Eigentum fahren inzwischen unter ausländischer Flagge. Der Bestand deutscher Schiffe unter deutscher Flagge stagniert mit 290 Schiffen auf einem sehr niedrigen Niveau, obwohl nahezu alle Hürden, die dem Führen der deutschen Flagge entgegenstehen, inzwischen abgebaut sind und die Bundesregierung mit ihrem Schifffahrtsförderungspaket finanzielle Unterstützung in verschiedener Hinsicht bereitstellt.
Auch die durch Corona in Schwierigkeiten geratenen Werften geraten unter zusätzlichen Druck durch immer aggressiveres Auftreten asiatischer, stark subventionierter Werften, die einerseits in genau den Nischen, in denen sich deutsche Werften auf dem Weltmarkt etabliert haben, auf den Markt drängen. Zusätzlich besteht aber die Gefahr, dass sie sich durch Investitionen in finanziell angeschlagene deutsche Werften Zugang zu wettbewerbsrelevantem deutschen Know-how verschaffen. Rechtlich können wir die Werften kaum schützen. Derartige ausländische Direktinvestitionen dürfen nach EU-Recht grundsätzlich keinen Restriktionen unterliegen.
Auch das Herz der maritimen Wirtschaft, das seemännische Personal, das die Schifffahrt in Bewegung hält und auch in den vielen landseitigen maritimen Berufen für den Erhalt der maritimen Wirtschaft sorgt, schrumpft in Deutschland wie auch weltweit immer mehr. Der Baltic and International Maritime Council (BIMCO) und die internationale Schifffahrtskammer ICS gehen weltweit von einem Fehlbestand von 16 500 Offizieren aus.
Wir müssen die Faszination für den außerordentlichen Beruf der Seefahrt wieder sichtbar machen – die Arbeit auf hochmodernen, digitalen Brücken, das Gefühl, schon früh Verantwortung für die Besatzung, das Schiff und die Ladung übernehmen zu dürfen, mit der Perspektive, die Leitung der Maschinenanlage oder später sogar die Gesamtverantwortung für das Schiff übernehmen zu können – und später anspruchsvolle Positionen an Land besetzen zu können.
Und wir müssen versuchen, der in Deutschland herrschenden Seablindness, der mangelnden Wahrnehmung der Bedeutung von Seeschifffahrt und maritimer Branche für Gesamtwirtschaft und internationalen Handel, entgegenzuwirken. Wenn uns beides gelingt, können wir vielleicht den Verlust des maritimen Know-hows in Deutschland stoppen.
Dr. Karin Kammann-Klippstein ist Präsidentin des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie.
Foto: BSH
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