Ob im Nordpazifik oder am Nordpol: Die Rivalität der Großmächte und der politische wie ökologische Klimawandel beeinflussen sich gegenseitig.
Man stelle sich eine Szene in den kommenden Jahren vor: Die Geschichte der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk in der Ukraine würde mit einem Missgeschick enden. Bevor die Separatistenhochburgen endgültig in den Besitz des ukrainischen Staates übergehen würden, sollte die Flagge der russischen Schutzmacht noch ein letztes Mal feierlich eingeholt werden. Doch anstatt langsam nach unten zu gleiten, würde sich die weiß-blau-rote Trikolore am Mast verhaken. Mehrere Matrosen müssten emporklettern, um das Tuch zu lösen. Dabei würde das Symbol imperialer Macht so unglücklich herabfallen, dass es sich in den aufgerichteten Bajonetten der angetretenen Soldaten verfangen und an mehreren Stellen einreißen würde. Nach diesem peinlichen Zwischenfall würde es nur noch darum gehen, die Angelegenheit möglichst rasch zu beenden. Die Repräsentanten Russlands und der Ukraine würden einige – zum Leidwesen der anwesenden Medien – kaum verständliche Worte wechseln, sich die Hände reichen und damit endgültig den Wechsel der „Volksrepubliken“ von einem Staat an den anderen besiegeln. Anschließend würde die ukrainische Flagge gehisst.
Wie derzeit unvorstellbar und doch zugleich sehr passend zur jüngsten russisch-ukrainischen Geschichte wäre eine solche Szene. Zumal sie sich bereits ereignet hat – nur nicht im 21. Jahrhundert, sondern zwei Jahrhunderte zuvor. Und auch nicht in der Ukraine, sondern im heutigen Alaska, im damaligen Russisch-Amerika. Schon damals rangen Moskau und Washington miteinander – nicht in Europa, sondern in Amerika.
Umso verdienstvoller, dass Robert Kindler diese Szene und ihre Geschichte in seinem Buch „Robbenreich. Russland und die Grenzen der Macht am Nordpazifik“ aufgeschrieben hat. Die Lektüre verursacht so manches Déjà-vu angesichts der gegenwärtigen Nachrichtenlage und ihrer möglichen Folgen. Dem Osteuropahistoriker, der an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Freien Universität Berlin forscht und lehrt, gelang in dem Jahr, in dem Russland die Krim besetzte, ein preisgekrönter Bucherfolg mit „Stalins Nomaden – Herrschaft und Hunger in Kasachstan“, einem im Westen beinahe unbekannten Kapitel russischer Geschichte – nicht nur die Ukraine wurde von Stalin einer Hungersnot mit Millionen von Opfern ausgesetzt, sondern auch die multiethnische Bevölkerung Kasachstans als Folge ihrer Unterwerfung durch Sesshaftmachung, Kollektivierung und Dekulakisierung.
„Sowjetisierung durch Hunger“ nannte Kindler Stalins brutale Methodik – auch hier Anlass für ein Déjà-vu mit Blick auf Putins Hungerwaffe, geschaffen durch seine Invasion der Ukraine, eingesetzt gegen die Koalition internationaler Sanktionen als Antwort auf Russlands Aggression.
Nun widmet sich Kindler einem weiteren in Europa kaum bekannten Kapitel russischer Geschichte. Auch dieses wirkt angesichts der aktuellen Entwicklung wie eine Vorgeschichte der Gegenwart. Denn auch in Kindlers Darstellung von Russlands Engagement am Nordpazifik im 19. Jahrhundert spiegelt sich eine Geschichte andauernder Konflikte um Einfluss, Macht und Ressourcen. Schauplatz ist das nordpazifische „Robbenreich“ der Pelzrobben, deren Felle auf dem globalen Rauchwarenmarkt des ausgehenden 19. Jahrhunderts nach Kindlers Beobachtung außerordentlich begehrt waren. Entsprechend hart war der ökonomische Kampf um diese Robben in der imperialen Peripherie des russischen Zarenreichs mit staatlichen wie privaten Akteuren aus den Vereinigten Staaten, Kanada und Japan. Dabei stieß das in Kindlers Augen schon damals auf Expansion, Ausbeutung und Unterwerfung basierende Herrschaftsmodell des russischen Staats an seine Grenzen: Schließlich verkaufte Zar Alexander II. 1867 Russisch-Amerika an die USA. Es entstand das heutige Alaska. Die russische Flagge wurde eingeholt, die amerikanische gehisst.
Um Flaggen dreht es sich auch bei Michael Paul in seinem Buch „Der Kampf um den Nordpol. Die Arktis, der Klimawandel und die Rivalität der Großmächte“. Nicht nur am Nordpazifik, sondern ebenso am Nordpol standen und stehen Flaggen bis heute für Ansprüche großer Mächte. Wobei diese nördlichsten Schauplätze traditioneller Machtpolitik zugleich immer im Windschatten der öffentlichen Aufmerksamkeit lagen und liegen – diese zeigt sich gegenwärtig gefesselt vom neuen heißen Kalten Krieg zwischen Russland und dem Westen in der Ukraine und vom neuen great game zwischen China und den Vereinigten Staaten um die Vorherrschaft in Asien und damit zugleich um die globale Vormacht.
Wer schaut da schon zum Nordpol? Diejenigen wie Paul, denen aufgefallen ist, wie gerade in der Arktis die beiden starken Prägungen der Gegenwart – der Klimawandel und die erneut kriegerische Rivalität der Großmächte – zwei Pole bilden, die sich gegenseitig beeinflussen. Der Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin beschreibt den Klimawandel nicht nur als maßgeblichen Treiber der Veränderungen in der Arktis, sondern auch als verantwortlich für das „arktische Paradox“: Die Erwärmung und das immer stärkere Abschmelzen des Eises zu Land und zur See würden es erlauben, Seewege und Ressourcen besser zu nutzen, was wiederum auf das Klima zurückwirke.
In der Folge ist nach Pauls Analyse ein Sicherheitsdilemma in der Region entstanden: Aufgrund des Klimawandels sei die Arktis zum Austragungsort der Konkurrenz großer Mächte geworden. Hinzu kämen russische Militäraktivitäten, die europäische NATO-Staaten im Norden verunsichern und eine höhere Präsenz von amerikanischen Streitkräften bewirken würden, was wiederum Russland in seiner Bedrohungswahrnehmung bestärke.
Wohltuend weist Paul darauf hin, dass die Arktis zwar erst seit wenigen Jahren wieder ein sicherheitspolitisches Thema sei. Gleichwohl seien strategische und militärische Erwägungen seit dem Ende des alten Kalten Kriegs nie ganz verschwunden. Allein schon aufgrund ihrer Lage bleibt die Arktis in Pauls Augen von hoher Bedeutung für Russland und die USA, die in der Beringstraße nur 85 Kilometer voneinander entfernt sind. Und angesichts der erneut auch atomaren Drohungen aus Moskau spätestens seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine erinnert Paul daran, dass ebenso bei einem heutigen nuklearen Schlagabtausch die russischen und amerikanischen Interkontinentalraketen ihren Kurs über das Nordpolarmeer nehmen würden.
Gemein mit den Hauptschauplätzen des neuen Kalten Kriegs in Europa und Asien hat dabei die Arktis, dass es auch bezogen auf sie in den neunziger Jahren Hoffnung auf eine andauernde Ära der Kooperation zwischen Ost und West gab. Das 21. Jahrhundert hätte nach Pauls Einschätzung sogar die „Ära der Arktis“ werden können. Aber stattdessen kehrte spätestens seit Beginn der 2020er-Jahre die Rivalität großer Mächte zurück – militärisch wie ökonomisch.
Dabei gehen die politischen Konflikte und Spannungen der jüngsten Zeit nur zu einem kleinen Teil von der Arktis selbst aus. Nach Pauls Beobachtung kommen sie größtenteils von außen – gleichsam als geopolitischer Kollateralschaden der Konkurrenz zwischen China, Russland und den USA. Denn die Arktis sei aus verschiedenen Gründen bedeutsam, um den eigenen Status zu erhalten oder zu vergrößern: Washington habe sie als „Arena“ im Kampf um Macht und Einfluss identifiziert und wolle den Status quo erhalten. Moskau wolle sie als Ressourcenbasis nutzen, um seine Rolle als Großmacht auszubauen. Und Peking wolle sie für den Aufstieg zur Weltmacht instrumentalisieren. Als typisch dafür bezeichnet Paul den jeweiligen Umgang mit den Schifffahrtswegen: Die Amerikaner wollen freie Routen, die Russen den Zugang begrenzen. Unvergessen bleibt zumindest in der Arktis die spektakuläre Aktion Russlands, bei der 2007 eine russische Flagge in über viertausend Meter Tiefe auf den Meeresboden am Nordpol gesetzt wurde – verbunden mit Moskaus Erklärung, die Arktis sei russisch. Ob diese Flagge auch einmal feierlich eingeholt werden wird?
Dieser Beitrag schließt an einen Artikel an, der am 7. Juni 2022 in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht wurde.
Thomas Speckmann ist Historiker und Politikwissenschaftler und hat Lehraufträge an den Universitäten Bonn, Münster, Potsdam und der FU Berlin wahrgenommen.
Thomas Speckmann
0 Kommentare