Von der Revolverkanone zur Splitterwolke – ein Quantensprung in der Nahbereichsverteidigung
Strategiewechsel im Kaliber 30mm
Mit der im Juni 2025 gestarteten Ausschreibung zur „querschnittlichen Nachfolgelösung Marineleichtgeschütz“ (qNFMLG) leitet die Deutsche Marine einen bedeutsamen Umbruch ein. Geplant ist die Beschaffung von bis zu 175 neuen 30mm-Waffensystemen samt Zubehör und Ausbildungsleistungen – beginnend im Oktober 2026 mit einer Laufzeit bis 2041.
Im Zentrum steht die Fähigkeit zur Abwehr von unbemannten Luftfahrzeugen (UAVs). Die Ausschreibung verlangt nach Systemen, die Airburst-Munition (ABM) verschießen und programmieren können – also Splitterladungen, die im Flug explodieren und damit auch kleine, agile Ziele effektiv bekämpfen.
Die andere zentrale Anforderung lautet: TRL 9. Nur Systeme, die ihre Einsatzfähigkeit auf Kriegsschiffen bereits bewiesen haben, kommen in Betracht.
Warum Airburst?
Der konventionelle Direktbeschuss mit kinetischer Munition ist gegen Drohnen zunehmend ineffektiv – ihre geringe Signatur und hohe Agilität erschweren Treffer. Airburst-Munition hingegen erzeugt im Zielraum eine „kegelförmige Wolke“ von Subprojektilen. Die Chance, ein Ziel zu treffen, steigt damit dramatisch – und der Schutz für Schiffe wird robuster.
Bereits 2022 entschied sich die Marine für die modernisierte MLG27-4.0 von Rheinmetall für die Fregatten F126 – allerdings ohne ABM-Fähigkeit. Der Bedarf nach einer echten Anti-Drohnen-Lösung bleibt also bestehen.
Breite Flotteneinrüstung geplant
Von den geplanten Systemen sollen 75 fest beauftragt, weitere 100 als Option vorgesehen werden. Die neue Waffenplattform soll auf neuen Einheiten wie der F127, den Flottendienstbooten der Klasse 424, der MUsE, aber auch auf bestehenden Plattformen (z. B. Versorger, Korvetten) integriert werden.
Bemerkenswert: Auch die neuen Flottendienstboote, ursprünglich unbewaffnet geplant, sollen mit dem neuen System ausgestattet werden – ein klares Signal für den gewachsenen Bedarf an Selbstschutz, selbst bei nicht-kombattanten Einheiten.
Standardisierung mit Weitblick
Die vorgesehene Ausrüstung bedeutet logistische Entlastung, vereinfacht die Wartung und ermöglicht einheitliche Ausbildung. qNFMLG nicht nur eine Antwort auf technologische Bedrohungen – sondern auch ein Schritt in Richtung Flottenstandardisierung, die langfristig Effizienz und Gefechtswert erhöht.
🔍 TRL 9 – Technologiereife ohne Kompromisse
Die Technology Readiness Level (TRL)-Skala wurde von der NASA entwickelt und international übernommen. TRL 9 bedeutet: „System ist vollständig entwickelt, validiert, unter Einsatzbedingungen erprobt und einsatzbereit.“
Für die Ausschreibung heißt das: Nur Systeme mit nachgewiesener Marinetauglichkeit kommen infrage – keine Prototypen, keine Laborkonzepte.
Vergleich: Wer bietet was?
Systemname | Hersteller | Kaliber | Airburst | TRL 9 | Besonderheit |
MLG27-4.0 | Rheinmetall | 27x145mm | ❌ | ✅ | Für F126 – aber nicht qNFMLG-konform |
Sea Snake 30 | Rheinmetall | 30x173mm | ✅ | in Zulauf | ABM-fähig, Erstkunde Brasilien |
MARLIN 30 | Leonardo | 30x173mm | ✅ | ✅ | modular, NATO-erprobt |
MGS 30mm | BAE Systems | 30x173mm | ✅ | ✅ | Fokus auf UAV-Abwehr |
NSG 30mm | Elbit Systems | 30x173mm | ❔ | ❔ | ABM-Fähigkeit bislang nicht bestätigt |
---
🔗 Hintergrundinformationen
Paradigmenwechsel in der Nahbereichsverteidigung
Die Ausschreibung für ein neues 30x173mm-Marineleichtgeschütz markiert einen wichtigen Schritt in der Modernisierung der Nahbereichsverteidigung der Deutschen Marine. Im Mittelpunkt steht die Fähigkeit zur wirkungsvollen Abwehr unbemannter Luftfahrzeuge (UAVs) und anderer asymmetrischer Bedrohungen – ein Fähigkeitsfeld, das zunehmend an sicherheitspolitischer Relevanz gewinnt. Die geforderte Unterstützung von Airburst-Munition sowie die Voraussetzung marktverfügbarer, einsatzerprobter Systeme auf TRL-9-Niveau unterstreichen den Anspruch auf eine sofort einsetzbare, robuste Lösung.
Dieser Modernisierungsschritt geht mit einem grundlegenden Fähigkeitswandel einher. Zwar ist das bewährte 27mm MLG 27 weiterhin auf zahlreichen Schiffen im Einsatz und liegt mit der modernisierten Variante MLG27-4.0 für die F126 bereits vertraglich vor. Doch fehlt dieser Version die zentrale Fähigkeit der neuen Generation: die programmierbare Abwehr von Drohnen mit Airburst-Munition. Die Umstellung auf das Kaliber 30x173mm mit entsprechender ABM-Fähigkeit ist eine direkte Antwort auf die Erkenntnisse aus aktuellen Konflikten, in denen UAVs zu einem realen Risiko für Seeeinheiten geworden sind.
Mit der geplanten Beschaffung von bis zu 175 Systemen bis 2041 wird eine langfristige, umfassende Flottenmodernisierung angestrebt. Die neue Waffenplattform soll nicht nur auf zukünftigen Einheiten wie den F127-Fregatten, der MUsE und den Flottendienstbooten der Klasse 424 zum Einsatz kommen, sondern perspektivisch auch die vorhandenen 27mm-Systeme auf anderen Plattformen ersetzen. Daraus ergibt sich die Chance zur überfälligen Standardisierung der Nahbereichsverteidigung – mit Vorteilen für Logistik, Wartung und Ausbildung. Auch der künftige Einsatz auf autonomen Überwassereinheiten und neuen Einsatzbooten erscheint denkbar.
Ein bemerkenswertes Detail der Ausschreibung ist die vorgesehene Bewaffnung der Flottendienstboote der Klasse 424. Diese ursprünglich als unbewaffnet konzipierten Einheiten sollen künftig ebenfalls mit dem neuen System ausgestattet werden. Dies spiegelt die wachsende Einsicht wider, dass selbst nicht-kombattante, hochsensible Aufklärungsplattformen in einem zunehmend hybriden Bedrohungsumfeld über glaubwürdige Selbstschutzfähigkeiten verfügen müssen.
Die qNFMLG-Initiative ist somit mehr als eine technische Beschaffung. Sie steht für eine sicherheitspolitisch motivierte Neuausrichtung der Nahbereichsverteidigung in der Marine. Die Entscheidung für Airburst-fähige Systeme ist keine technologische Spielerei, sondern eine logische Konsequenz aus den operativen Anforderungen der Gegenwart und der absehbaren Bedrohungslage von morgen.
Die Zukunft der Nahbereichsverteidigung scheint zu beginnen.
0 Kommentare