Die Korvette Oldenburg passiert Einheiten der SNMCMG 1, Foto: Foto: Bw/Nico Theska

Die Korvette Oldenburg passiert Einheiten der SNMCMG 1. Foto: Bw/Nico Theska

Freie Fahrt in der Ostsee  

Estnische und deutsche Minentaucherwerten Sonarbilder aus, Foto: Bw/Thomas Skiba

Estnische und deutsche Minentaucher
werten Sonarbilder aus, Foto: Bw/Thomas Skiba

Nun zahlt sich die seit Jahren praktizierte enge militärische Zusammenarbeit im Ostseeraum aus. Die NATO-Anwärter Finnland und Schweden demonstrieren bei zahlreichen Manövern ihren Wert für das Bündnis bei der Sicherung der Schifffahrtsrouten.

Mit seinen – nach westlichen Standards – werteverachtenden und aggressiven Handlungen gegenüber der Ukraine hat sich Russland in eine höchst konfrontative Position manövriert und international weitestgehend isoliert. Für die direkten Nachbarn Russlands, Finnland und Polen, aber insbesondere die drei Baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, hat sich hierdurch mehr als ein nur theoretisch existenzbedrohendes Gefühl eingestellt. Eigentlich längst der Vergangenheit angehörende Krisen- und Kriegsszenarien des Kalten Kriegs erscheinen wieder im Bereich des Denkbaren.

Einmal mehr rückt die Bedeutung der freien Schifffahrtswege, im militärischen Sprachgebrauch Sea Lines of Communication (SLOCs) genannt, für den Warenverkehr der Wirtschaft in den Fokus. Hinzu kommt jetzt wieder ihre Bedeutung für die Verlegung von militärischen Verbänden und deren Versorgung zur Verstärkung und Stabilisierung unserer östlichen Partner. Während Polen als Kontinentalstaat problemlos auf dem Landweg versorgt und verstärkt werden kann, ist die Bedeutung des Seewegs für die drei baltischen Staaten ungleich größer. Der geplante Aufwuchs der dort stationierten Kampfgruppen (Battle Groups) der NATO enhanced Forward Presence (eFP) auf Brigadestärke erhöht den Nachschubbedarf zudem erheblich. Der Landweg über die nur 65 Kilometer breite Suwalki-Lücke gilt im Konfliktfall als gefährdet.

Estnisches HilfsschiffWambola, Foto: Bw/Marcel Kroencke

Estnisches Hilfsschiff
Wambola, Foto: Bw/Marcel Kroencke

Russland verfügt mit seiner Baltischen Flotte in den Stützpunkten Baltijsk (in der Oblast Kaliningrad) und Kronstadt (im Finnischen Meerbusen rund 30 Kilometer vor St. Petersburg) über eine schlagkräftige, mit hochmodernen Waffen ausgestattete, seegehende Streitmacht. Diese wird durch Raketenabwehrsysteme neuster Bauart, darunter der Typ S-400, Küstenartilleriesysteme sowie zahlreiche Heeres- und Luftwaffenverbände auch aus der russischen Enklave Kaliningrad unterstützt. Auch wenn sie als isoliert und in der Ostsee „eingeschlossen“ gilt, kann die Baltische Flotte weit in die Ostsee hineinwirken und die dortigen SLOCs bedrohen.
Das Offenhalten dieser vitalen Schifffahrtsrouten ist eine Gemeinschaftsaufgabe der NATO und an vorderster Stelle natürlich die der Ostseeanrainerstaaten. Die Erwartungshaltung der Bündnispartner an die größte Marine im Ostseeraum, die Deutsche Marine, ist berechtigterweise vorhanden. Nicht erst mit dem russischen Angriff auf die Ukraine im vergangenen Jahr ist sich Deutschland der damit einhergehenden Verantwortung bewusst. Die Übernahme einer Führungsrolle wird bereits seit Jahren angestrebt. Mit der von Deutschland 2015 initiierten Baltic Commanders Conference, in welcher alle Ostseeanrainer einschließlich Norwegen, aber ausgenommen Russland, vertreten sind, wurde eine Plattform geschaffen, um die Abstimmung und Kooperation zwischen den Marinen im Ostseeraum zu intensivieren.

Gewachsene Zusammenarbeit
Kooperationen zwischen seegehenden und landgestützten Einheiten im Ostseeraum blicken auf eine lange Entwicklung und Tradition zurück. Die gewachsene Zusammenarbeit im Rahmen der Ständigen NATO-Einsatzverbände ist dabei nur eine der Konstanten. Regelmäßige Großmanöver wie Baltops, Northern Coasts oder Open Spirit verbinden bereits seit Jahren die Marinen der nördlichen NATO-Staaten und deren Partner im Ostseeraum. Im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden (Partnership for Peace, PfP) wurden die zukünftigen NATO-Mitgliedsstaaten Finnland und Schweden nach Ende des Kalten Kriegs frühzeitig bei Übungen eingebunden.

Anmerkung am Rande: Auch Russland ist seit der Ratifizierung durch die Duma im Jahr 2007 Mitglied dieser Partnerschaft. Jedoch kann diese Beziehung derzeit als ruhend bezeichnet werden.

Der Beginn des Kriegs in der Ukraine stellt aus Sicht der NATO und der EU, aber auch jedes anderen demokratischen Staats, eine akute Gefährdung der wertebasierten internationalen Ordnung dar. Die Bewertung liegt nahe, dass der Verlauf und besonders das Ergebnis dieses Kriegs Auswirkungen auf die Zukunft der europäischen und globalen Sicherheitsarchitektur haben werden wird. Diese erhebliche, geeinte und somit höchst wirksame Unterstützung aller westlichen Staaten für die Ukraine – ohne direkte militärische Beteiligung –, resultierte in dem wiedererwachten Bewusstsein, dass das Bündnis gegen jede Aggression nur gemeinsam bestehen kann. Diese westliche Einheit wird als Schlüssel zum Erhalt der Sicherheit in Europa gesehen. Die Bedeutung von gestärkter Zusammenarbeit, intensivierten Beziehungen und deutlichen Investitionen in die Stärkung der Streitkräfte zur Landes- und Bündnisverteidigung wird allseits hervorgehoben. In der Praxis geht es primär um die Überprüfung und Anpassung von Strukturen und vorbereiteten Plänen, aber im Besonderen um sichtbare und gemeinsame Signale der Ent- und Geschlossenheit.

Umgehend wurden sogenannte Wachsamkeitsaktivitäten, im NATO-Jargon vigilance activities genannt, in der Ostsee verstärkt. Diese eigentlich grundsätzlichen militärischen Maßnahmen von NATO-Kräften dienen der Gewinnung und Aufrechterhaltung eines angemessenen strategischen Lagebewusstseins im Bündnisgebiet und der Sicherstellung der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte. Als Steigerung dazu sieht die NATO enhanced vigilance activities (eVA), sogenannte erhöhte Wachsamkeitsaktivitäten, vor. Damit wird auf die konkrete Veränderung der Sicherheitslage und Schwerpunktverschiebungen eigener Streitkräfte reagiert, wie es derzeit an der Ostflanke des Bündnisses erforderlich ist.

NATO-Verband im Jahr 2017, Foto: NATO/Christian Valverde

NATO-Verband im Jahr 2017, Foto: NATO/Christian Valverde

Deutschland ist sich seiner besonderen Verantwortung in der Ostsee bewusst und hat mit der eVA Baltic Guard unmittelbar nach Kriegsbeginn im Frühjahr 2022 die Aktivitäten in der Ostsee erheblich verstärkt. Alle verfügbaren und einsatzbereiten Einheiten wurden in See geschickt, teilweise sogar von Vorhaben in weiter westlich gelegenen Seegebieten in die mittlere und östliche Ostsee umgeleitet.

Zahlreiche Manöver
In diesem Zusammenhang ist die Baltic Mine Countermeasures Exercise (BMCMEx) des 3. Minensuchgeschwaders hervorzuheben. Ursprünglich waren der Beginn des Manövers und das Auslaufen der Einheiten für den 14. März 2022 vorgesehen. Um Baltic Guard zu unterstützen, erfolgte das Auslaufen bereits am 28. Februar, womit die Kaltstartfähigkeit der Flotte nachgewiesen wurde, und dauerte bis zum 1. April. Insgesamt nahmen an diesem internationalen Einladungsmanöver etwa 600 Soldatinnen und Soldaten teil, davon etwa 450 aus Deutschland. Neben den fünf Minenjagdbooten des 3. Minensuchgeschwaders und den drei Tendern 404 des Unterstützungsgeschwaders beteiligten sich zudem durchgängig Einheiten aus Belgien, Dänemark, Estland, Lettland und Litauen am Manöver. Phasenweise nahmen zusätzlich Minenabwehreinheiten aus Finnland und Schweden an Übungsabschnitten teil. Neben dem operativen Übungserfolg und einem überaus positiv zu bewertenden Erfahrungsgewinn für die beteiligten Einheiten ist die Vertiefung der internationalen Beziehungen insbesondere auf taktischer Ebene hervorzuheben. Auch wenn die Kooperationsfähigkeit im Bereich der Minenabwehr durch langjährige gemeinsame Beteiligungen an den stehenden NATO-Minenabwehrverbänden schon immer gut war, zeigte dieses Vorhaben, in welch kurzem Zeitraum ein internationaler, einsatzfähiger Minenabwehrverband aufgestellt werden kann – eine essentielle Kernfähigkeit zur Sicherstellung der offenen Seeverbindungswege, besonders in den relativ flachen Gewässern der Ostsee.

Ein noch wesentlich breiteres Fähigkeitsspektrum wurde beim Manöver Baltops im Juni 2022 geübt. Insgesamt kooperierten 14 NATO-Staaten und zwei Partnerländer für knapp vierzehn Tage in der Ostsee. Schwerpunkte waren neben amphibischen Operationen Schießübungen, U-Boot-, Flug und Seeminenabwehr. Mit rund 45 Schiffen und Booten, 75 Luftfahrzeugen und etwa 7000 beteiligten Soldatinnen und Soldaten hatte Baltops dieses Jahr einen beeindruckenden Umfang. Die Anzahl an seegehenden Einheiten war die größte seit der ersten Durchführung im Jahr 1971. Deutschland war mit der Fregatte Sachsen, der Korvette Braunschweig, dem Einsatzgruppenversorger Berlin sowie den Minenjagdbooten Fulda und Homburg und darüber hinaus mit diversen Luftfahrzeugen beteiligt. Deutlicher hätte man zu diesem Zeitpunkt kein Signal der Geschlossenheit und Kooperationsfähigkeit an Russland schicken können.

In einer anderen Größenordnung, aber mit dem gleichem Kooperationsgedanken, fand im September das durch Deutschland geführte Manöver Northern Coasts statt. Neben allgemeiner force integration lagen die Schwerpunkte auf U-Boot- und Minenabwehr. Aus Deutschland waren die Fregatte Schleswig-Holstein als Führungsplattform mit zwei Bordhubschraubern Sea Lynx, das Flottendienstboot Oste, das Minenjagdboot Bad Bevensen mit einem eingeschifftem US-Minentaucherteam, U 32, der Tender Elbe und das Marinefliegergeschwader mit zahlreichen P-3C-Missionen beteiligt. International waren ein amerikanischer Zerstörer der Arleigh-Burke-Klasse, Minenabwehreinheiten aus Frankreich, Estland, Lettland und Litauen dabei. Seeraumüberwachungsflüge durch amerikanische P-8A unterstützen die Lagebilderstellung und trugen erheblich zum Trainingserfolg bei allen Beteiligten bei.

Mit Baltic Tiger 22 fand im Oktober in Estland eine multinationale, teilstreitkraftgemeinsame Übung mit anderer Schwerpunktsetzung statt. Neben dem Seebataillon mit Marineinfanteristen, Minentauchern und Sanitätspersonal, dem Objektschutzregiment der Luftwaffe und dem ABC-Abwehrzug Nordsee der Marine und zahlreichen Einheiten der estnischen Gastgeber waren dänische und britische Kräfte beteiligt. Der Schwerpunkt lag auf dem Schutz wichtiger Infrastruktur, wie dem NATO-Flugplatz in Ämari, von wo aus deutsche Eurofighter ihren Beitrag zum verstärkten air policing im Baltikum leisten. Zusätzlich wurden Verfahren der Luftnahunterstützung trainiert. Das Manöver unterstrich die hervorragende Kooperation von NATO-Einheiten untereinander mit unmittelbarem Bezug zum Schutz der NATO-Ostflanke.

Als letztes großes internationales Manöver des Jahres fand im November und Dezember Freezing Winds 2022 statt. Es war das größte jemals von Finnland durchgeführte und geleitete maritime Manöver mit internationaler Beteiligung dar. Insgesamt waren Kräfte aus zwölf Nationen und bis zu 5000 Soldatinnen und Soldaten beteiligt. Mit regionalem Schwerpunkt im Finnischen Meerbusen und der Schärenlandschaft wurde die Zusammenarbeit maritimer Einheiten und Kräfte des Küstenschutzes geübt und ausgebaut. Unter anderem leisteten die zahlreichen Minenabwehreinheiten mit Beteiligung der VJTF (M), der SNMCMG 1 unter anderem mit dem Tender Mosel und dem Minenjagdboot Sulzbach-Rosenberg, sowie das für Baltic Guard operierende Minenjagdboot Dillingen einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der SLOCs in der Ostsee. Bei Freezing Winds wurde deutlich, dass das zukünftige NATO-Mitglied durch die langjährige Beteiligung an gemeinsamen Vorhaben und regelmäßigen Kooperationen hervorragend gerüstet ist und eine Stärkung der NATO im Osten darstellt.

Fazit
Die Enge der Ostsee und die Nähe der Partner hat es in der Vergangenheit ermöglicht, regelmäßig und intensiv das umfassende Spektrum militärischer Fähigkeiten gemeinsam zu trainieren und weiterzuentwickeln. In Folge der geschlossenen Antwort der westlichen Verbündeten aus NATO und EU auf den russischen Angriff auf die Ukraine hat die Befähigung zur gemeinsamen und teilstreitkraftübergreifenden Operationsführung an Bedeutung gewonnen. 
Unabhängig von größeren, lange im Voraus geplanten Manövern bietet Deutschland mit Baltic Guard einen durchgängigen Rahmen für die Fortsetzung und Intensivierung von kurzfristigen Kooperationsvorhaben – bi- oder multilateral – und untermauert damit auch den Anspruch an eine Führungsrolle im Ostseeraum.

Fregattenkapitän Thorsten Klinger ist tätig in der Einsatzflottille 1, Fähigkeitsentwicklung Seeminenkrieg.

Thorsten Klinger

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