Bug der "NewNew Polar Bear". Foto: Torgmoll

Bug der "NewNew Polar Bear". Foto: Torgmoll

Gasleck der Ostsee Pipeline Balticconnector: Sabotage - oder Pech?

Konzertierter russisch-chinesischer Sabotageakt? Oder einfach nur seemännisches Missgeschick?

Endlich ein offizielles Zeichen aus Finnland! Wir haben uns in der Redaktion etwas Zeit genommen, derweil Informationen aus offenen Quellen gesammelt, und so lange gewartet, bis das Gesamtbild klarer geworden ist. Es geht um die Beschädigungen an der Balticconnector-Gaspipeline und zwei Kommunikationskabeln auf dem Ostseegrund an verschiedenen Stellen zwischen Estland und Finnland, die am 8. Oktober 2023 festgestellt wurden.

Schadstelle an der Balticconnector-Pipeline. Foto: NBI Finnland

Was
Die Gas-Pipeline Balticconnector verläuft von Paldiski 30 Kilometer westlich von Tallinn nordwärts zum finnischen LNG-Terminal in Inkoo 40 Kilometer westlich von Helsinki und stellt eine Brücke dar zwischen den aus Russland kommenden Pipelinesystemen in Nordestland und Südfinnland. Sie ist deutlich kleiner dimensioniert als Nord Stream.

Schadstelle an der Balticconnector-Pipeline. Foto: NBI Finnland

Eine Energieabhängigkeit Finnlands von dieser Gasverbindung wird mit etwa 5% angegeben und ihr Ausfall daher nicht als bedrohlich bewertet. Erste Untersuchungen der Schadstellen ergaben Hinweise auf äußerliche und mechanische Ursachen. Eine Instandsetzung wird allerdings erst 2024 erfolgen können.

Wo
Die beiden beschädigten Unterwasser-Kommunikationskabel liegen in einiger Entfernung zur Gas-Pipeline:

Gesamtbild der betroffenen Versorgungsleitungen. Grafik: ERR Polen

"E-finest" verläuft etwa 20 Seemeilen weiter östlich ziemlich direkt von Tallinn aus nördlich nach Helsinki.

Das Datenkabel "EE-S1" nach Schweden verläuft von Tallinn zunächst westlich in der estnischen Küstenzone und springt dann von der Insel Hijumaa direkt nach Westen auf Stockholm zu. Es zeigt eine Schadstelle etwa 80 Seemeilen westsüdwestlich der Gaspipeline-Bruchstelle - und damit etwa 60 Seemeilen vor Stockholm.

Am ersteren wurden Übertragungsstörungen bereits am 8. Oktober festgestellt, am schwedisch-estnischen Glasfaser-Kabel erst einige Tage später, weil es eigentlich noch seine Dienste versah, aber eben in deutlich reduziertem Umfang, sodass man letztendlich doch einen Kabelbruch annehmen musste.

Beide Kabel ließen sich wider herstellen, so die Aussagen der Betreiber, aber auch dafür wird man drei bis sechs Monate benötigen.

Wer
Erste Korrelationen von Zeit und Raum mit den Schiffsbewegungen auf den digitalen Karten des Finnischen Meerbusens wiesen auf zwei Fahrzeuge hin:

- das russische eisbrechende, atomgetriebene Container-/Spezial-Frachtschiff "Sevmorput" und

- das chinesische, in Hong Kong registrierte Containerschiff "NewNew Polar Bear".

Nuklear getriebener, russischer Spezial-Frachter "Sevmorput". Foto: Michael Nitz

Die 260 Meter lange und 62.000 Tonnen verdrängende "Sevmorput" ist eines der letzten verbleibenden Atom-Frachtschiffe überhaupt. Sie wurde Mitte der 80er Jahre in Kertsch auf der Krim gebaut und verfügt über verstärkte Bordwände und einen Eisbrechersteven. Ihr Name ist Programm und gilt als Abkürzung der russischen Bezeichnung für den "Nördlichen Seeweg" (Sewernyj morskoj put) durch die Arktis, für dessen Befahrbarkeit sie offensichtlich auch jetzt wieder eingesetzt wird. Von den finnischen Ermittlungsbehörden abgefragt, dementierte Atomflot, der Betreiber, umgehend die Beteiligung des russischen Schiffes an möglichen Vorgängen im finnischen Meerbusen.

Container-Feeder "NewNew Polar Bear", China. Foto: Finnischer Grenzschutz

Das Containerschiff "NewNew Polar Bear" wurde 2004/05 bei der Meyer-Werft in Papenburg für die deutsche Hansa Hamburg Shipping International als zweiter eines Loses von vier Container-Feedern der Eilbek-Klasse gebaut. Mit 1620 TEU (20"-Container-Äquivalent), 170 Metern Länge und 24.000 Tonnen Verdrängung sollten sie die Weiterverteilung von und zu den großen Container-Terminals bewerkstelligen. Diese Schiffe verfügen über die höchste Finnisch-Schwedische Eisklasse 1A-Super. Die "Reinbek" wie sie ursprünglich hieß, hat eine bewegte Eigner- und Namens-Geschichte und landete erst im Juni diesen Jahres bei der chinesischen Hainan Xin Xin Yang Shipping. Im September befuhr sie bereits als "NewNew Polar Bear" die arktische Nord-Route westwärts.

Wann
Die AIS-Daten zeigen beide Schiffe zum Zeitpunkt der Beschädigungen zwischen 01:12 und 01:20 Uhr über der Pipeline und wenig später über dem östlichen Kommunikationskabel. In diesem Zeitrahmen wurde von einer seismografischen Station in Finnland ein ganz schwaches Beben aufgezeichnet. Kurz darauf wurde der Druckverlust an Land registriert und um 02:00 Uhr musste die Pipeline abgesperrt werden.

Hier das Video der aggregierten AIS-Daten nordwestlich von Tallinn auf der Länge Ingå/Finnland - Paldiski/Estland.

Spurenlesen
Die Untersuchungen auf dem Meeresboden zeigten eine Bruchstelle der Pipeline, die auf äußere, mechanische Einwirkung hinweist. Genau diese Stelle passierte zum Zeitpunkt der seismischen und betrieblichen Anomalien die "NewNew Polar Bear".

Sichergestelltes Beweismaterial Foto: NBI Finland

Mittlerweile konnten auf dem Meeresboden bis zu 4 Meter breite Schleifspuren festgestellt werden, die zur Bruchstelle an der Pipeline hinführen, wie die finnische Ermittlungsbehörde am 24.10.2023 mitteilte. Wenige Meter entfernt (in Fahrtrichtung "NewNew Polar Bear") wurde ein abgerissener Anker mit einem abgebrochenen Flunken gefunden und sichergestellt. Eine schmalere Schleifspur (Kette und/oder Ankerstock) erstreckt sich über Dutzende Seemeilen entlang dem Track des vermutlichen Verursachers. Soweit zu den Angaben des National Bureau of Investigation in Vantaa, Finnland.

Und das passt: Der "NewNew Polar Bear" fehlte spätestens beim Einlaufen in Archangelsk/Russland am Weißen Meer tatsächlich der Backbord-Buganker, außerdem lehnte ein Container-Rack erkennbar nach Steuerbord. Auch schon in Sankt Petersburg, aus Baltiisk kommend am 8. Oktober angelaufen, konnte nachträglich die Ankerkette auf der Pier liegend ermittelt werden. Das Schiff lief dort am 12. Oktober wieder aus, über Kaliningrad (13. Oktober) und weiter nach Archangelsk am Weißen Meer (21. Oktober).

KV "Sortland", Norwegen Foto: Norwegische Marine

Während der Vorbeifahrt an Norwegens Küste wurde der Frachter übrigens von dem norwegischen Küstenwachboot "Sortland" argwöhnisch beäugt und auf kurze Distanz durch die Gebiete der nationalen Versorgungsleitungen begleitet. Auch an Norwegen vorbei wurde die "NewNew Polar Bear" ihrerseits begleitet von der "Sevmorput".

In Archangelsk angekommen, richteten sich alle Kameras auf die Ankerklüsen der "NewNew Polar Bear" - und siehe da, der Backbord-Anker war weg!

Doppelspiel
Seit dem Auslaufen aus Archangelsk am 25. Oktober wiederum begleitet die "Sevmorput" die "NewNew Polar Bear" auf ihrem Weg über die Nordroute und bricht ihr den Weg frei durch das herbstliche Arktiseis der Kara-See und der Vilkitsky-Straße entlang der sibirischen Nordküste bis in die Beringsee. Erwähnenswert sollte vielleicht auch die Verlängerung der Passage-Genehmigung bis zum 15. November sein, die allerdings nicht mehr auf den Namen des chinesischen Betreibers ausgestellt ist, sondern auf den Namen des russischen Logistik-Dienstleisters Torgmoll in Moskau (und Shanghai), der sich unter anderem für die Entwicklung der "Neuen Seidenstraße" stark macht.

Finnlands Außenministerium hatte am 20. Oktober bestätigt, Russland und China auf diplomatischen Kanälen bezüglich der beiden Schiffe kontaktiert zu haben. Moskau dementierte umgehend, und China mahnte "objektive, faire und professionelle" Untersuchungen des Vorfalls seitens Finnland an. Die "NewNew Polar Bear" war jedenfalls für Behörden und Medien nicht erreichbar.

NATO-AWACS. Foto: NATO

Reaktionen
Ebenfalls am 20. Oktober ließ die NATO durch ihren Sprecher verlauten, dass sie bereits die Zahl ihrer Aufklärungs- und Überwachungsmittel (Drohnen, Seefernaufklärer, NATO-AWACS) und die Präsenz von Überwasser-Seekriegsmitteln in der Ostsee nochmals verstärkt habe, um gefährdete Infrastruktur zu schützen. In der Woche zuvor hatte Generalsekretär Jens Stoltenberg darauf hingewiesen, dass jedwede absichtlich herbeigeführte Beschädigung der alliierten Versorgungsleitungen schwerwiegend sei und nicht ohne Konsequenzen bliebe. Seit den Sabotageakten gegen die Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 ist bereits die militärische Beobachtung des Geschehens im gesamten Ostseeraum intensiviert worden.

Schließlich forderte Lettlands Präsident Edgars Rinkevics am 20. Oktober in den öffentlichen Medien eine durch die NATO geführte Diskussion über Möglichkeiten, den russischen Schiffsverkehr in der Ostsee zu unterbinden, sollte sich Russland als Drahtzieher hinter verschiedenen Beschädigungen unterseeischer Versorgungsleitungen herausstellen. Die NATO hätte dazu die Fähigkeiten, sagte er, - ohne dass man sich in NATO-Kreisen mit einer derartigen Option öffentlich befasst hätte, oder sich darüber abgestimmt habe, wie die Durchsetzung eines derartigen Embargos eingerichtet und durchgeführt werden sollte, geschweige denn, welche Konsequenzen überhaupt solch ein Schritt haben könnte, der den Ostsee-Handel mit Russlands zweitgrößter Stadt zum Erliegen brächte. Auch ein schneller Schuss aus der Hüfte kann durchaus daneben gehen.

Russisches Aufklärungsschiff "Sibiyakov". Foto: topwar.ru

Vorlauf
Interessant auch noch die Beobachtung der polnischen Rochan Consulting, dass sich das russische, mit Tauchbooten bestückte Aufklärungsschiff "Sibiryakov" (Projekt 865, 85 Meter, 3.000 Tonnen) dieses Jahr mindestens drei mal im Bereich der Balticconnector-Pipeline aufgehalten und deren Nord-Süd-Linie abgefahren habe - als "Dark-Ship", also mit abgeschaltetem AIS-Erkennungs- und Positionssystem. So, wie dies auch bezüglich genau dieser "Sibiryakov" bereits für den Zeitraum kurz vor den Nord Stream-Sabotageakten 2022 recherchiert werden konnte. Zufälle gibt's . . !

WARUM
Unklar bleibt weiterhin, ob es sich um gezielte Sabotage handelte oder es einfach nur seemännisches Missgeschick war, das zu den Beschädigungen geführt hatte. Allerdings: Einen tonnenschweren Anker ausrauschen zu lassen beziehungsweise den ganzen Anker zu verlieren, das passiert nicht einfach so - völlig ungewollt, unbemerkt und total stillschweigend! Außerdem hätten sich in dem von der "NewNew Polar Bear" mit schleifendem Anker durchstreiften Seegebiet von 100 Seemeilen Länge und variierender Tiefe sicher noch ein paar weitere in Mitleidenschaft gezogene Kabel bemerkbar machen müssen. China als "Player" in der Ostsee? Es bleiben also noch einige Fragen offen, aber das Bild nimmt doch schon gewisse Umrisse an!

7 Kommentare

    • Herr Vögeli, vielen Dank für die weiteren Hinweise im gefundenen Text. Manche Puzzle-Teilchen passen, einige gehören aber auch nicht zum Gesamtbild. Dies zu entscheiden, obliegt den ermittelnden Behörden in den betroffenen Staaten. Da wir nicht wissen, ob und wann wir deren Gesamtbild zu sehen bekommen, sind auch wir vorerst auf ein unaufgeregtes Sammeln von Informationen angewiesen. Eines ist sicher: Die die klügsten Seeleute sitzen hinter dem Deich! Gruß aus „Achterndiek“. Axel Stephenson. Redaktion.

      Antworten
  1. Der Autor schreibt: „Außerdem hätten sich in dem von der „NewNew Polar Bear“ mit schleifendem Anker durchstreiften Seegebiet von 100 Seemeilen Länge und variierender Tiefe sicher noch ein paar weitere in Mitleidenschaft gezogene Kabel bemerkbar machen müssen.“ Das scheint der Fall zu sein; lt. der finnischen Yle News wurde das russische Baltika-Kabel der Rostelecom westlich der BalticConnector-Pipeline beschädigt und wird gerade von dem russischen Reparaturschiff Spasatel Karev repariert (s. https://yle.fi/a/74-20058850).
    Interessanter weiterer Aspekt: Zum Zeitpunkt der BalticConnector-Beschädigung hielt sich ein zweites russisches Schiff, die SGV Flot, auf dem Weg von St. Petersburg nach Westen für längere Zeit genau über der Balticconnector-Pipeline auf; vom Abend des 6.10. an blieb sie auf dieser Position bis zum 8.10. Das Rendezvous der drei Schiffe NewNew Polar Bear, Sevmorput und SGV Flot zur Zeit des Schadens zeigt eine Animation der finnischen Zeitung Iltalehti hier: https://www.iltalehti.fi/kotimaa/a/c193c1e1-fa04-4719-bb7b-c7d3f986d187 .
    Vielleicht ebenfalls interessant ist, dass die Schadensstelle an der BalticConnector-Pipeline sich genau da befindet, wo Nord Stream 1 und BalticConnector sich kreuzen.

    Antworten
    • Sehr geehrte Frau Kirchberger – danke für die Ergänzung der Erkenntnisse seit der Veröffentlichung des Beitrages. Gruß nach Kiel. Axel Stephenson, Redaktion.

      Antworten
  2. Eine gute Recherche – BZ! Genau so etwas verstehe ich unter fundierten Informationen: kein Schnellschuß, nur um damit als erster im Netz präsent zu sein, sondern in Ruhe alles auch an begleitenden Informationen zusammentragen, damit sich ein Gesamtbild ergibt. Bitte weiter so!

    Antworten
  3. …aber man wird es ihnen nie nicht per Ziviljustiz nachweisen können, wenn nicht ein Überläufer direkt von der Brücke oder der Ankerwinde „presönliches Gesehenhaben“ berichtet.- Militärische Erkundungen sind zwar vllt. „aufschlußreicher“, aber außer als Kriegsgrund kaum zu gebrauchen

    So gesehen ist auch die Idee, den Schiffsverkehr nach Petersburg zu stoppen, einfach ein Witz oder Gedanke eines Wahnsinnigen.- Eine solche Blockade (m.E. eine völlig unverhältnismäßige) müßte „der Russe“ mit Gewalt zu brechen versuchen, bevor seine Petersburger und die von dort versorgten Landgebiete „verhungern“. –

    Antworten
  4. Interessant und gut recherchierter Artikel, der sich wohltuend von sonst üblichen spekulativen Veröffentlichungen abhebt. Gerade das Hinweisen auf nicht bewiesene oder beweisbare Abläufe zeigt, wie schwierig juristisch eindeutige Aussagen sind.
    Nebenbei:
    Zitat: „China mahnte „objektive, faire und professionelle“ Untersuchungen des Vorfalls seitens Finnland an“ Zitat Ende, gilt das auch für die Vorfälle im Südchinesischen Meer? Nur mal so gefragt

    Mit freundlichen Grüßen,

    Axel Schilling

    Antworten

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert