Zum 63. Mal trafen sich Offiziere der Marine und Gäste zur Historisch-Taktischen Tagung. Gastgeber Vizeadmiral Lenski wartete mit einigen Neuerungen und Überraschungen auf.
Es lag Schnee in Linstow, ansonsten begann die Historisch-Taktische Tagung der Marine (HiTaTa) wie immer: mit langen Warteschlangen vor der Rezeption, die von den Anwesenden aber freudig und herzlich als Gelegenheit zur Begrüßung genutzt wurden. Und wer kam? Das „Who is who“ der Deutschen Marine natürlich, das doppeltgoldene Eichenlaub fast komplett, illustre Gäste und traditionell die Vertreter der Institutionen, die die Marine begleiten und unterstützen, so auch – seit 50 Jahren übrigens – das marineforum.
Die erste Änderung betrat morgens vor der traditionellen Begrüßung durch den Gastgeber, den Befehlshaber der Flotte und Unterstützungskräfte, Vizeadmiral Frank Lenski, die Bühne: Fregattenkapitän Göran Swistek führte, mit Kopfbügelmikro ausgestattet, stehend und gehend durch das Programm. Souveräne Moderation wie man es heutzutage sehen will. Als der Befehlshaber die 620 Teilnehmer zur 63. Historisch-Taktischen Tagung der Marine mit dem Thema „Kalter Krieg 2.0 – Die Bundesmarine als abschreckendes Vorbild?“ mit den Worten „Doch nun zur Lage der Marine zu Beginn des Jahres“ begrüßte, fiel niemandem sofort sein Streich auf. Als er jedoch über den Auftrag, über die Bedrohung am Nordflankenraum und die Notwendigkeit internationaler Präsenz seinen Vortrag fortführte, dämmerte es: Er zitierte aus der 1983 auf der HiTaTa gehaltenen Rede von Vizeadmiral Bethge, Inspekteur der Marine von 1980 bis 1985!
Bei seinem Hinweis, dass die Herren der ersten Reihe damals vermutlich in den letzten Reihen gesessen haben mögen, fiel dem Publikum auch auf, wie diese Reihen besetzt waren: deutlich mehr junge Offiziere als sonst, eine sich im Verlauf der HiTaTa als erfrischend herausstellende Entscheidung. Dass man dafür viele Kapitäne zur See nicht mehr wie traditionell üblich eingeladen hatte, soll angeblich für Schmollen gesorgt haben. Auffällig war auch, wie aktuell die Worte von 1983 nachhallten und wie sehr „diese Worte heute doch wieder ihre Gültigkeit haben“. Und die Aktualität begründet die Befassung mit der damaligen Zeit: „Kann die Deutsche Marine als Vorbild für funktionierende Abschreckung dienen?“.
Mit guten Wünschen für 2024 und positivem Rückblick auf das Jubiläumsjahr dankte er allen Soldaten und Soldatinnen für das Geleistete und verwies auf die laufenden Einsätze und Vorhaben, die den Beteiligten alles abverlangen – und zwar unter politisch ernsten Rahmenbedingungen mit laufenden Kriegen und vielfältigen Krisen. Mit der offiziellen Begrüßung des Inspekteurs der Marine kündigte er dann sogleich eine Änderung im Ablauf an. Anschließend begrüßte er traditionell die anwesenden ehemaligen Inspekteure, Befehlshaber und die „externen Admirale“ sowie die Vertreter der Verbände.
Historische Parallelen
Die Begrüßung der auf der HiTaTa nicht wegzudenkenden Riege der Historiker nahm er zum Anlass, an die kürzlich Verstorbenen zu erinnern und sie zu ehren: „Bereits im Oktober haben wir so plötzlich und unerwartet Abschied von unserem geschätzten Kameraden und Freund Kapitän zur See Dr. Jörg Hillmann nehmen müssen. Damit haben wir nicht nur unseren treuen Kameraden, sondern auch die Marine, ja die gesamte Bundeswehr einen profunden Kenner deutscher Militärgeschichte verloren. Und in der Nacht zum letzten Samstag hat Dr. Stephan Huck, über 20 Jahre lang Geschäftsführer der Stiftung Deutsches Marinemuseum, den Kampf gegen den Krebs verloren. Wir können uns nur in Dankbarkeit und Demut vor seiner unfassbaren Lebensleistung verneigen und seiner Familie Kraft und Mut wünschen.“
Vizeadmiral Lenski umriss weiterhin den Auftrag während des Kalten Kriegs, zählte die aus heutiger Sicht beeindruckende Anzahl der Einheiten und die Personalstärke auf. Mit der Schilderung stellte er die Frage „Sind es überhaupt Parallelen …, war früher wirklich alles besser? Und was kann uns die Phase der Bundesmarine lehren?“ Und dann kam, was auf jeder Historisch-Taktischen Tagung kommt: die HiTaTa- Regeln. Er zitierte „weisungsgemäß“ die Hinweise zum „wissenschaftlichen Kongress“, zur „Zensur“ und dem „Anlass zum Schmunzeln“. Regel acht – der Applaus – ist keine feste Vorgabe mehr: der Befehlshaber habe nichts dagegen, wenn man ihm applaudieren wolle. Eine weitere Änderung also, nur eines fiel wohl nicht allen sogleich auf: Der Name des Gründers der HiTaTa fiel nicht. Das war nicht unbeabsichtigt.
Die Folge der ersten vier Vorträge wurde nachmittags durch eine Podiumsdiskussion unterbrochen. Mit dem Thema „Bedeutung nuklearer Abschreckung damals wie heute?“ trugen Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr München sowie Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik vor. Letztere hatte bereits beim Flaggoffizier-Abend die Anwesenden auf die aktuelle sicherheitspolitische Lage eingestimmt. Beide Wissenschaftler erhöhten bei den Anwesenden deutlich den „nuklearen IQ“, wie Carlo Masala es beschrieb. Es wurde deutlich, wie sich die nukleare Abschreckung vom politischen zum militärischen verändert, welche Rolle Deutschland spielt oder spielen könnte und wie man in Europa auf diesem Sektor kooperieren muss. Erschreckend die Erkenntnis, dass die Bedeutung dieser Waffen gestiegen ist und auch die Reduzierung bei gleichzeitiger internationaler Verbreitung die Gefahr nicht mindere.
Die Wortmeldungen zu den Vorträgen konnten wie stets im Stehen vorgetragen, aber auch über eine App namens Mentimeter digital an das Organisationsteam gegeben werden. Kapitän zur See Schmidt-Thomée fungierte dabei wie der Sidekick einer Talkshow und fasste die Publikumsfragen zusammen. Die Anwendung jedoch ist nicht schnell und die Fragesteller blieben anonym. Etwas, das die Veranstalter überdenken sollten, weil der Befehlshaber alle ermutigte, „sich aktiv und mit offenem Visier an den Diskussionen zu beteiligen“.
Der Gesellschaftsabend war wie gewohnt lebendig und ging bis in die späte Nacht. Maritime Unterhaltung boten die Auftritte des Marinemusikkorps Kiel unter der Leitung von Kapitänleutnant Inga Hilsberg und der Poesiematrosin Stabsgefreiter Veronica Scholz.
Der dritte Tag begann mit der Ansprache des Inspekteurs der Marine, Vizeadmiral Jan C. Kaack. Mit herzlichen Worten bedankte er sich für die Grüße zum Jahreswechsel, bevor er Kurs und Fahrt für das kommende Jahr adressierte. Vorab grüßte er alle „Kameradinnen und Kameraden, die den Jahreswechsel fern der Heimat mit ihren Besatzungen im Einsatz verbracht haben oder diejenigen, die heute in Bereitschaft sind und vom Baltikum bis ins Mittelmeer ihren Dienst leisten, für die Sicherheit der Menschen in Deutschland sowie unserer Verbündeten und Partner. Treu und tapfer. Weltweit. Jeden Tag.“ Besonders erwähnte er dabei Flottillenadmiral Thorsten Marx sowie Kommandant und Besatzung der Fregatte Hessen. Nach einem teils persönlichen Rückblick auf den Kalten Krieg kam er auf den Punkt: Es sei „schweres Wetter voraus“, es brauche eine „ Standortbestimmung der Marine in der Weltunordnung“ und er wolle den „Kurs für 2024 abstecken“. Mit dem ersten seiner Schwerpunkte führte er den Ukrainekrieg an und das sich weiter mit atemberaubender Geschwindigkeit verändernde Sicherheitsumfeld mit beunruhigenden Effekten.
Hinzu kämen Megatrends wie künstliche Intelligenz und ihre Militarisierung, Demografie, Hyperschallwaffen sowie der Einsatz autonomer Plattformen. „Darauf müssen wir uns einstellen – ob wir wollen oder nicht“, so der Inspekteur. Er ging auf die Taiwanfrage ein sowie auf die Entwicklung der russischen Streitkräfte und deren Marine. „Niemand stellt mehr infrage, dass Krieg auch für uns wieder unmittelbare Realität werden kann.“ Zur Standortbestimmung der Marine in der „Weltunordnung“ verwies er wesentlich auf den Kurs Marine 2035+. Neuartige Waffensysteme, innovative Kooperationen und der Einstieg in Experimente seien zukunftsweisend. Erfolge gäbe es zu verzeichnen, so sei das Manöver Northern Coasts unter deutscher Führung richtungsweisend gewesen und die neue Arsenallandschaft ein echter Gewinn.
Negativ zu bewerten sei die Nachwuchsgewinnung für die Marine. Die Personallage habe sich leider auch im vergangenen Jahr nicht verbessert und wird zunehmend kritisch. Der Inspekteur wählte klare Worte: es sei desaströs. Er appellierte an alle, die „Talentmagnet-Community“ zu unterstützen. „Leider haben wir in diesem Jahr auch Beispiele von Vorgesetzten gehabt, die deutlich ihren eigenen Kurs gesteuert haben, ja einen Erfolg aktiv behindert haben. Nicht gut! Andrehen!“ Ein Anpfiff des Inspekteurs vor Publikum ist auch selten.
Personal, Munition, Pazifik
Den dritten Schwerpunkt legte Admiral Kaack darauf, den Kurs für 2024 abzustecken. Er wolle das Jahr als fight now verstanden wissen – als das Jahr des Agierens und des Auftakts zum „Durchkämpfen“ seines Kurses 2035+. Seine Vorgabe dazu: „Also, alte Regel: Erst mal hart andrehen und dann langsam aufkommen. Sonst verwachst man das Manöver.“ Der Admiral führte zudem aus, wie er sich die „Familie Marine“ vorstellt und erwähnte die wichtigsten internationalen Partnerschaften. Die Top-drei-Prioritäten des Inspekteurs sind: Personal, Munition und das Indo-Pacific Deployment 2024, für ihn das Großvorhaben der Marine in diesem Jahr: „Keine „Ausbildung in außerheimischen Gewässern, sondern eine Operation“. Kaaks Schlussworte sind sein Markenzeichen: „Denn wir sind Marine und Sie alle sind einer von Wir.“
Den letzten Vortrag bestritt Oberleutnant zur See Franziska Borrmann. Dabei kamen Emotionen auf. Sie zitierte einen Unteroffizier der Rottweil und sprach damit vielen der Anwesenden zutiefst aus der Seele – und das wollen wir den Lesern nicht vorenthalten: „Aber wir halten das aus. Weil wir immer die Hoffnung haben, dass es vielleicht doch noch besser wird. Weil wir den ganzen Scheiß hier lieben.“ Der Befehlshaber der Flotte griff in seiner Abschlussrede dieses Zitat auf und wiederholte es auf seine Weise. Lenski dankte den Referenten, dem Organisationsteam und den Gästen. Er erkannte deutliche Parallelen, die man aus den Vorträgen zwischen „damals und heute“ erkennen könne. Und doch sei eine Eins-zu-eins-Übertragung damaliger Ansätze oftmals nur schwer möglich, auch das haben die Referenten deutlich aufgezeigt. Er schloss mit einem herzlichen Bravo Zulu.
Über den Verlauf der Tagung war zu spüren: Die Leidenschaft für dieses einmalige Format der Marine lässt nicht nach. Sie hat in diesem Jahr sogar weiteren Schub bekommen, denn die HiTaTa kann auch „neu“, ohne alte Zöpfe abzuschneiden. Sie werden nur behutsam gestutzt, mit Rücksicht auf Tradition und Historie. Und die HiTaTa kann auch „jung“, ohne die Älteren dabei auszugrenzen.
Die Chuzpe, das Können und das unglaubliche Selbstbewusstsein der Vortragenden waren beeindruckend und erfrischend. Nicht nur deshalb, sondern auch wegen der Aktualität des Themas meldeten sich keine Historiker zu Wort, eher die Zeitzeugen. Und die HiTaTa kann auch „persönlich“: Die Verjüngung wird vom Inspekteur und vom Befehlshaber, die sich immer mehr zu einem kongenialen Duo entwickeln, überzeugend gelebt. Sie machen vor, dass man auch als „Dreisterner“ nahbar sein kann.
Es sind nicht die Zeiten für Beschönigungen, sondern für offene Worte. Das schafft Vertrauen, Zugehörigkeit und fördert die unkopierbare Kohäsion des Blauen Tuchs. Ein zählbarer Beweis dafür waren die von jungen Offizieren gut besuchten Stände der Vereine. Dort verzeichneten die Repräsentanten zahlreiche Eintritte.
Holger Schlüter
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