Mit künstlich aufgeschütteten Inseln festigt China seine Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer. Aggressiv auftretende Fischereiflotten und maritime Milizen sollen zudem die Ernährung der Bürger sicherstellen.
Spätestens mit den G7-, NATO- und EU-Treffen des amerikanischen Präsidenten im Juni 2021 wurde den Europäern klar, dass sie sich mit Blick auf die Volksrepublik China neu positionieren müssen. Dabei geht es nicht mehr nur um militärisches Flaggezeigen im Südchinesischen Meer, sondern um den künftigen politischen, wirtschaftlichen und technologischen Umgang mit einem Land, das sich seit Längerem anschickt, die Supermacht Nummer eins zu werden. Und der European Council on Foreign Relations stellt dazu fest: „China ist gewillt, wirtschaftliche Strafen zu verhängen, um die EU-Politik zu ändern.“ Und zu diesen wirtschaftlichen Strafen könnte künftig auch der massive Einsatz von maritimen Milizen und Fischereiflotten gehören. Diese stehen militärisch unter dem Kommando der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und sind schon durch die schiere Zahl ihrer Fahrzeuge in der Lage, Anrainer, Handelsschifffahrt und Fischerei zur Änderung ihres Verhaltens im Sinne Chinas zu zwingen. Dies könne unterhalb der Schwelle zu bewaffneten Auseinandersetzungen erfolgen. Eine solche Grauzone wurde von China bereits bei der Errichtung von künstlichen Inseln im Südchinesischen Meer genutzt. Bereits heute befinden sich 60 Prozent der weltweiten Fischereiflotte im Besitz Chinas, 60 Prozent aller Einfuhren von Fischereiprodukten in die EU kommen aus dem asiatischen Land.
Chinas maritime Kräfte
Einen guten Einstieg in die Thematik bietet das Buch „China´s Maritime Gray Zone Operations“. Es wurde 2019 von Andrew S. Erickson und Ryan D. Martinson als gemeinsame Publikation des China Maritime Studies Institute am Naval War College und des US Naval Institute herausgegeben. Thematisiert werden Aufwuchs und Einsatz von drei maritimen Kräften Chinas, die quantitativ bereits heute die größten der Welt darstellen: die Marine (People’s Liberation Army Navy, PLAN), die Küstenwache und die maritimen Milizen. Unterstützt werden diese Kräfte durch die größte Fischereiflotte der Welt, eine der größten Handelsmarinen, ein stark wachsendes, weltweites Netz von ständig nutzbaren Häfen und eine große, unter nationaler Flagge fahrende Tankerflotte. Mit diesem Potenzial könnten mehr als 600 Jahre Dominanz westlicher Marinen auf den Weltmeeren zu Ende gehen.
Einleitend analysieren fünf Autoren die konzeptionelle Entwicklung chinesischer Operationen in Grauzonen. Sie heben dabei die besondere Bedeutung der maritimen Milizen als paramilitärische Kräfte hervor, beschreiben deren Einsatzstrategien und die Schwierigkeiten bei der Anwendung von internationalem Recht ihnen gegenüber. Im dritten Teil werden die Einheiten und deren verstärkter Einsatz bei Operationen der maritimen Milizen in rechtlichen Grauzonen untersucht. Diese Operationen dienen der Überwasser- wie Unterwasserüberwachung, der Unterbindung von Fischfang durch Anrainerstaaten in deren Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ). Dies geschieht durch das Abdrängen der Fischerboote mittels aggressiver Kursänderungen und Rammaktionen. Damit sollen chinesische Rechtsansprüche auf die ausschließliche Nutzung von großen Teilen des Süd- und Ostchinesischen Meeres manifestiert werden. Abschließend stellen die Herausgeber fest, dass Chinas Strategie eines Kriegs ohne scharfen Schuss weiterhin erfolgreich ist, sofern nicht entschlossen gegengesteuert wird. Sie entwickeln daher Optionen für einen entschiedenen Einsatz von amerikanischer Seemacht vor Chinas Küste. Bisher sei die US Navy zwar erfolgreich bei ihren Freedom of Navigation Operations gewesen, da China nur politisch protestiert, aber keine eigenen Marinekräfte zur Abwehr eingesetzt habe. Dennoch habe China mit einer Salamitaktik seit 2006 erfolgreich seinen Einfluss im Süd- wie Ostchinesischen Meer ausgedehnt. Und dies dürfte sich nach der Rede von Präsident Xi Jinping zum 100. Geburtstag von Chinas Kommunistischer Partei am 1. Juli 2021 verstärkt fortsetzen.
Bereits 2017 hat Erickson gemeinsam mit Conor M. Kennedy unter dem Titel „China´s Third Sea Force, The People´s Armed Forces Maritime Militia: Tethered to the PLA“ einen bemerkenswerten Bericht vorgelegt. Darin wurden aus unzähligen offenen chinesischen Quellen Rückschlüsse auf Aufgaben, Einsätze, Strukturen und Befehlsstränge der maritimen Milizen gezogen. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Führende Elemente der maritimen Miliz Chinas waren an vorderster Linie bei Zwischenfällen und Scharmützeln mit ausländischen Schiffen im Südchinesischen Meer beteiligt.
- Die Miliz ist ein Schlüsselelement der chinesischen Streitkräfte und Teil des sogenannten People´s Armed Forces System
- People´s Armed Forces Maritime Militia (PAFMM) ist daher die treffendste Bezeichnung für Chinas dritte Seestreitkraft.
- Die Beteiligung von PAFMM-Kräften an Zwischenfällen und Provokationen in internationalen Gewässern erfolgte oft auf Anweisung der PLA, manchmal auch anderer maritimer chinesischer Ordnungskräfte.
- Die PAFMM ist eine staatlich organisierte, entwickelte und kontrollierte Streitmacht, die unter der direkten Führungskette der Streitkräfte staatlich geförderte Maßnahmen durchführt.
Einsatzgebiet Pazifik
Gerade die Analyse und bildliche Darstellung der militärischen wie politischen Befehlskette hat ganz wesentlich zur Neubewertung dieser Kräfte im politischen und militärischen Establishment Amerikas beigetragen. Sie ist seither nicht nur in strategischen Papieren zur Verteidigung von US-Interessen, sondern auch in Berichten an den Kongress und das Weiße Haus fester Bestandteil von möglichen Bedrohungsszenarien.
Interessant in diesem Kontext ist, dass Tausende Mitarbeiter der chinesischen Fischereiflotte auch eingeschriebene Mitglieder der maritimen Miliz sind. Ihre Schiffe treten inzwischen nicht mehr nur im Süd- und Ostchinesischen Meer in großen Schwärmen auf und behindern die Arbeit von Fangschiffen aus Vietnam, den Philippinen, Japan und selbst den USA. Selbst fern der eigenen Küstenmeere finden solche Aktionen in der Tiefe des Pazifiks bis hin zur AWZ Perus und Ecuadors statt.
Nicht alle Staaten, die vom Fischfang leben, haben die Mittel, ihre Interessen mit polizeilichen Kräften gegen Eindringlinge in ihre nationalen Gewässer zu schützen. Damit entstand ein Freiraum für Handlungen Dritter, die man unter der Bezeichnung illegal, unreported and unregulated fishing (IUU) zusammenfasst. Diese Art Fischfang hat inzwischen Piraterie als größte maritime Gefahr für die Weltschifffahrt abgelöst. In einer Studie aus dem Jahr 2020 zeigt der Befehlshaber der US Coast Guard Möglichkeiten auf, wie man dieser Herausforderung künftig begegnen könnte.
Es geht hierbei auch um die grundsätzliche Frage, wie eine weiter wachsende Weltbevölkerung ernährt werden kann. Die rücksichtslose Raubfischerei einiger Staaten stellt dabei ein großes Problem dar. Diese wenigen Staaten untergraben auch die Versuche vieler anderer Nationen, über nachhaltige Fischerei den Tierbestand zu erhalten und damit auch künftige Generationen mit Fisch ernähren zu können. Von besonderer Bedeutung sind die Flotten von China und Taiwan (gemeinsam 60 %), Japan, Südkorea und Spanien (jeweils 10 %), die zusammen 90 Prozent der Hochseefischerei auf sich vereinen. Es bedarf somit eines gemeinsam mit diesen Staaten abgestimmten Regimes zum Erhalt der Fischbestände. Und damit wird das größte Problem in diesem Kontext sichtbar: Eine fehlende Vereinbarung mit China, das bisher jegliche internationale Regelung und Schiedsgerichtsbarkeit ablehnt.
Betrachtet man die letzten fünf Jahre, so kann die Europäische Union mit ihrer EU IUU Fishing Coalition, an der sich inzwischen weltweit 91 Länder beteiligen, einige Erfolge vorweisen. Inzwischen haben sich die beteiligten Staaten überwiegend an die geforderten Standards der EU angenähert. Eine wichtige Ausnahme bildet China mit seiner riesigen Fischfangflotte. Bislang findet sich weder in Publikationen der Europäischen Union oder Deutschlands ein Hinweis zum Umgang mit diesem Problem, auch nicht in den bisherigen Jahresberichten des Marinekommandos.
Überwachung gefordert
Im Vergleich dazu sprechen die Situationsbeschreibung des Befehlshabers der US Coast Guard und seine Empfehlungen eine klare und deutliche Sprache. Er berichtet von einer Steigerung der jährlich gefangenen Fischmengen, der Zunahme des möglichen Fischfangs unter kommerziellen Bedingungen in Arktis und Antarktis aufgrund der Einflüsse des Klimawandels, aber auch von Fischwanderungen aus südlichen Gewässern nach Norden und einer kontinuierlichen Abnahme der Fischbestände in afrikanischen und südamerikanischen Staaten rund um den Äquator. Dies alles führt zu Schwierigkeiten bei der Ernährung der lokalen Bevölkerung.
Die US Coast Guard fordert neben der seit Dekaden üblichen Überwachung der eigenen Ausschließlichen Wirtschaftszone daher auch eine weltweite Überwachung durch Nachrichtendienste, den Austausch der gewonnen Informationen, rechtliche Unterstützung und die Bereitstellung von politischen Informationen zur Abstimmung von Operationen. Dies sei Voraussetzung für den Erhalt ausreichend großer Fischbestände für künftige Generationen.
Unbeantwortet bleibt auch hier die Frage, wie mit chinesischen Fischereifahrzeugen umzugehen ist, die eine Überprüfung des Fischfangs durch Dritte ablehnen. Wie sollen andere Staaten unterstützt werden, wenn die chinesische maritime Miliz mit einer großen Zahl von Schiffen in der AWZ einer anderen Nation außerhalb des Südchinesischen Meeres auftaucht, um Wohlverhalten gegenüber chinesischer Fischerei zu erzwingen? Wie umgehen mit künftigem kommerziellen Fischfang von China in der Arktis trotz einem formal bestehenden Verbot? Wie umgehen mit chinesischen Fischereifahrzeugen und Fabrikschiffen, die durch Fahrzeuge der maritimen Miliz in internationalen Gewässern des Nordatlantiks auftauchen?
Bisher war das größte Manko westlicher Staaten, dass sie die chinesische Handlungsweise unterhalb der Schwelle zum Krieg nicht verstanden haben und daher nicht adäquat reagierten. Dies mussten sich auch die USA mit ihrer (Nicht-)Reaktion im Südchinesischen Meer eingestehen. China möchte aus der AWZ der Anrainer des Südchinesischen Meeres eine Sicherheitszone für sich selbst machen. Daher gilt es, die völkerrechtlich verbriefte ungehinderte Nutzung der Hohen See zu verteidigen. Es gilt auch zu begreifen, dass China seine Küstenwache und maritime Miliz ebenso im Sinne der politischen Interessen der KPCh einsetzt wie die PLAN. Damit müssen sich die USA ihre Alliierten im Indopazifik, vor allem im Südchinesischen wie Ostchinesischen Meer, glaubwürdig schützen und ihre eigenen Interessen verteidigen.
Für die Europäer stellen sich die folgenden grundsätzlichen Fragen: Brauchen wir ein weiteres Jahrzehnt, bevor wir uns mit der sicherheitspolitischen Bedeutung der Hohen See fernab eigener Küstengewässer im Dunstkreis der aufstrebenden Weltmacht China auseinandersetzen? Nicht in Diskussionsrunden, sondern mit operativen Planungen auf Basis von Planspielen unter Beteiligung der ministeriellen Ebene, der deutschen (Logistik-)Wirtschaft, der zuständigen Länderbehörden und der Streitkräfte. Meer verstehen heißt auch maritim zu denken. Hierzu passt ein Gedanke des Autors Thomas Bagger: „Es wird zu den schwierigen Herausforderungen einer neuen Bundesregierung gehören, den Deutschen die Wirklichkeit einer raueren Welt zuzumuten.“
Heinz Dieter Jopp
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