Öffentliche Vereidigung als Symbol für treues Dienen, Foto: Bw/Steve Back

Öffentliche Vereidigung als Symbol für treues Dienen, Foto: Bw/Steve Back

Die Renaissance der Wehrpflicht?

Nach dem Ende des Kalten Kriegs galt die Wehrpflicht als Auslaufmodell. Aber die Zeitenwende erfordert neue Lösungen.

Seit dem 24. Februar 2022 ist die 2011 ausgesetzte Wehrpflicht plötzlich wieder in aller Munde. Seinerzeit war die deutsche Politik übereinstimmend der Ansicht, dass ein Verteidigungskrieg in Europa auf absehbare Zeit nicht zu erwarten sei. Vielmehr sei die Hauptaufgabe der Streitkräfte die Friedenssicherung in aller Welt.
Außerdem war Wehrgerechtigkeit bei schrumpfenden Streitkräften nur zu gewährleisten, wenn man den Dienst so verkürzte, dass er kaum mehr eine sinnvolle Ausbildung erlaubte. Wehrpflichtige erschienen in modernen Kriegen nicht mehr einsetzbar. Folglich drängten nicht nur Wehrpflichtgegner, sondern auch Deutschlands Verbündete, die Wehrpflicht zu beenden. Zudem erhoffte man sich weitere finanzielle Einsparungen bei der Bundeswehr. Kleiner und professioneller hieß die Devise, gemeint war vor allem billiger.

Das alles erscheint nach dem russischen Überfall auf die Ukraine in einem anderen Licht. Der Krieg dauert viel länger und fordert höhere Verluste als erwartet. Beide Seiten dürften im ersten Kriegsjahr über 100 000 Soldaten verloren haben, die ersetzt werden müssen. Auf ukrainischer Seite kamen viele zuvor als Wehrpflichtige ausgebildete Reservisten zum Einsatz und konnten die Verluste mit qualifiziertem Personal ausgleichen.

Das zeigt, dass größere Kriege ohne personelle Reserven nicht zu bestehen sind, und dass sich Wehrpflichtige dabei gut bewähren. Hier geht es nicht nur um Reservisten für den Heimatschutz, sondern auch für die Kampftruppe, die personell zu ergänzen ist.

Keine der europäischen Freiwilligenstreitkräfte wäre in der Lage, Reservisten in dem Maße zu mobilisieren, wie es gerade im Ukrainekrieg geschieht. Nach kurzer Zeit wären sie alle personell ausgezehrt. Diese Erkenntnis hat die Wehrpflichtdebatte neu belebt.

Das Dilemma der Wehrgerechtigkeit

Dabei ist in Deutschland die Wehrgerechtigkeit das Hauptproblem. Gemäß dem Prinzip der Allgemeinen Wehrpflicht sind nach Lesart des Bundesverfassungsgerichts zwei Drittel der jungen Männer zu einem Dienst einzuziehen. Die Situation, dass man zwar für die militärische Verteidigung Deutschlands eine Anzahl Wehrpflichtige braucht, aber nicht so viele, wie es die Wehrgerechtigkeit verlangt, ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Dieses Dilemma wird noch größer, wenn man bei Reaktivierung der Wehrpflicht diese auf die Frauen ausdehnt.

Als Lösung wird eine allgemeine Dienstpflicht diskutiert. Hier stellt allerdings die Europäische Menschenrechtskonvention eine große Hürde dar. Deren Artikel 4 verbietet die Zwangsarbeit mit wenigen Ausnahmen, darunter den Pflichtwehrdienst, den entsprechenden Zivildienst und Dienstleistungen „im Rahmen der üblichen Bürgerpflichten“.

Ob letztere allerdings Dienste im Krankenhaus, im Sozialsystem oder im Umweltschutz einschließen, wie es Befürworter der Dienstpflicht vertreten, erscheint zweifelhaft. Es ist also keineswegs sicher, dass die allgemeine Dienstpflicht einem Prozess vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof standhält. Sie könnte sich am Ende als Irrweg erweisen. Und eines gilt auch: Nichts wäre so ungerecht, wie Menschen allein zu dem Zweck einzuberufen, dass sie nicht bessergestellt werden als andere.

Einen anderen Weg gehen Schweden und Norwegen. Deren Gesetzeslage verlangt keine allgemeine Wehrpflicht. Es werden jeweils nur so viele Soldaten einberufen, wie die Streitkräfte benötigen. So waren in Schweden 2017 gerade 4000 Einberufungen vorgesehen.

Wie könnte das in Deutschland aussehen? Nicht als Blaupause, aber als grober zahlenmäßiger Rahmen sei an die Bundeswehr vor 20 Jahren erinnert. 2003 gab es 190 000 Berufs- und Zeitsoldaten (heute 181 000), 24 100 Freiwillig Wehrdienstleistende (12 500) und 69 900 Grundwehrdienstleistende, zusammen etwa 284 000 (193 500) Soldatinnen und Soldaten.

Für Streitkräfte dieser Größenordnung bietet sich die skandinavische Lösung an. Sie in Deutschland einzuführen, erfordert in erster Linie politischen Willen. Wenn man allerdings das Grundgesetz bei der Reaktivierung der Wehrpflicht ohnehin ändern muss, um sie auf die Frauen auszudehnen, kann man gleichzeitig das Gebot der allgemeinen Wehrpflicht aufheben.

Was in Ländern wie Norwegen und Schweden, die uns häufig als politische und gesellschaftliche Vorbilder dienen, rechtsstaatlich erlaubt und gesellschaftlich akzeptiert ist, sollte in Deutschland ebenfalls möglich sein.

Karsten Schneider

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