Dieter Hanel zeichnete im marineforum 7/8-2022 die Entwicklung von Bundeswehr und Marine am Standort Kiel nach. Im zweiten Teil wirft der Autor einen Blick auf die maritime Industrie in der Landeshauptstadt.
Mit der Wiederbewaffnung Deutschlands und der Aufstellung der Bundeswehr im Jahr 1955 begann auch der Wiederaufbau einer deutschen Rüstungsindustrie. Am 16. März 1959 erhielten die Kieler Howaldtswerke, die zu diesem Zeitpunkt noch rund 13 000 Beschäftigte hatten, vom Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung den Auftrag für den Bau von zwölf U-Booten der Klasse 201, der auf die Entwicklungsergebnisse des Ingenieurkontors Lübeck aufbaut. Der 12. Dezember 1959 war der Baubeginn des ersten Bootes U 1, das am 20. März 1962 in Dienst gestellt wurde. Und auch die Komponentenzulieferer, darunter bekannte Namen wie An-schütz, Elac und Hagenuk, konnten ihr schiffstechnisches Know-how schnell in leistungsfähige Produkte des Marineschiffbaus umsetzen.
Die euphorischen Hoffnungen auf eine Ära des Weltfriedens und die hoch gesteckten Erwartungen an eine umfangreiche „Friedensdividende" sowie die damit verbundenen Kürzungen der Verteidigungsausgaben prägten bereits kurz nach Ende des Kalten Kriegs die Sicherheitspolitik Deutschlands und die Ausrichtung der Bundeswehr. Diese mündeten ohne eine umfassende sicherheitspolitische Analyse und eine langfristig angelegte Strategie in eine Vielzahl nie zu Ende geführter Bundeswehrreformen.
So gestaltete sich nach Ende des Kalten Kriegs die wirtschaftspolitische Lage der Unternehmen im Marineschiffbau binnen kurzer Zeit äußerst schwierig. Die damals in Kiel ansässigen Unternehmen mussten bis 1994 insgesamt einen beträchtlichen Personalabbau und Umsatzrückgang verkraften, verbunden mit tiefgreifenden Umstrukturierungen. Die Zahl der in Kiel direkt in der Wehrtechnik Beschäftigten ging von 1992 bis 1994 von 1825 auf 1445 zurück. Dies war der niedrigste Stand, den Kiel im Marineschiffbau zu verzeichnen hatte.
Die Rüstungsindustrie stand bei Ende des Kalten Kriegs vor schwierigen strategischen Grundsatzentscheidungen über ihre zukünftige Ausrichtung. Dabei man-gelte es nicht an Empfehlungen. Der damalige sozialdemokratische Ministerpräsident des Landes, Björn Engholm, bewerte bereits 1989 die Lage folgendermaßen: „Es ist nicht zu leugnen, dass der Kriegsschiffbau für den verbleibenden Rest unserer Werftindustrie derzeit noch von teilweise erheblicher Bedeutung ist. Unser politisches Ziel ist aber ebenso eindeutig, diese Bedeutung zu verringern.“
Der schleswig-holsteinische Wirtschaftsminister Peer Steinbrück vertrat 1994 folgende Auffassung: „Die Umstellung auf zivile Produkte ist eine aussichtsreiche Strategie, um die vorhandenen Potenziale der wehrtechnischen Industrie zukunfts-trächtig zu nutzen, ihre Krisenanfälligkeit zu reduzieren und hochqualifizierte Arbeitsplätze in diesen Unternehmen zu sichern. (…) Einige Unternehmen in Schleswig-Holstein haben die Notwendigkeit der Umorientierung schnell erkannt und die Entwicklung und Vermarktung ziviler Produkte in den letzten Jahren zügig vorangetrieben, wodurch sich ihre Zukunftsperspektiven oft deutlich verbessert haben. Die Landesregierung hält es für richtig, dass möglichst viele Unternehmen in Schleswig-Holstein diesen Weg beschreiten.“ Hier hatte sich Steinbrück, wie die weitere Entwicklung der sicherheitspolitischen Lage und der Unternehmen bis heute gezeigt hat, gründlich geirrt.
Die meisten Unternehmen konnten sich jedoch diesen politischen, oft ideologisch geprägten Bewertungen zur Lage der wehrtechnischen Industrie und den da-raus folgenden Empfehlungen zur strategischen Ausrichtung nicht anschließen. Sie sahen in der Umstrukturierung und Konsolidierung, in zukunftsweisenden Technologien und neuen, einsatzgerechten militärischen Produkten sowie in der Ausrichtung auf zugängliche Auslandsmärkte trotz des dramatischen Personalabbaus und Umsatzrückgangs weiterhin Chancen für eine erfolgreiche Ausrichtung im wehr-technischen Kerngeschäft. So war es wie ein hoffnungsvolles Signal für eine zu-künftig positive Entwicklung der wehrtechnischen Industrie in Schleswig-Holstein, als 1994 die neue Fregatte der Marine bei HDW in Kiel auf den Namen SCHLESWIG-HOLSTEIN getauft wurde.
Kiel verfügt mit 13 Unternehmen und 4516 direkt in der Wehrtechnik Beschäftigten über einen leistungsfähigen Marineschiffbau. Dieser ist mit seinen Schlüsseltechnologien ein wichtiger Bestandteil der deutschen Rüstungsbasis. Damit hat der Marineschiffbau für Kiel eine besonders hohe, in den letzten Jahren stark gewachsene wirtschaftliche und industriepolitische Bedeutung. Während sich seit 1990 die Industriearbeitsplätze in der Landeshauptstadt von 22 000 auf 12 000 fast halbiert haben, konnten die im Marineschiffbau tätigen Unternehmen einen 150-prozentigen Zuwachs von 1825 auf 4550 Beschäftigte verzeichnen.
Schleswig-Holstein ist kein klassisches Industrieland. Die Landesregierung verfolgt deshalb das Ziel, „das Image Schleswig-Holsteins zu modernisieren und zur Positionierung als Industriestandort beizutragen“. So haben sich in einem gemeinsamen Positionspapier im Februar 2020 Landesregierung, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Kammern und Kommunen auch dazu bekannt, dass das nördlichste Bundesland über eine volkswirtschaftlich und technologisch bedeutende Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie verfügt: „Die wehrtechnische Kompetenz prägt den Industriestandort Schleswig-Holstein.“ Und hierzu zählt mit knapp der Hälfte der Unternehmen und 70 Prozent der Wehrtechnik-Beschäftigten insbesondere der Standort Kiel.
Auslandsmarkt
Die Investitionen im deutschen Verteidigungshaushalt haben seit der Wende nie für eine kontinuierliche Auslastung der Mindestkapazitäten und zum Erhalt der Tech-nologien bei den Rüstungsunternehmen ausgereicht, sodass der Auslandsmarkt von existentieller Bedeutung ist. So hat das Ausland als Markt für die Kieler Wehr-technikindustrie stark an Bedeutung gewonnen, zum einen durch die global veränderte sicherheitspolitische Lage, zum anderen durch die Erfordernisse verstärkter internationaler Rüstungskooperation.
Von den 68 relevanten Auftragseingängen, die die Kieler Marineschiffbauunternehmen von 1993 bis 2020 aus insgesamt 25 Ländern erhalten haben, kamen 52 aus dem Ausland, darunter 22 NATO-, EU- und gleichgestellte Länder. Schwer-punkte der sogenannten Drittländer lagen in Asien sowie im Mittleren Osten und in Nordafrika. Diese Aufträge haben in keiner Weise zu einer „Gefährdung weltweiter Friedensbemühungen“ geführt, sondern einen Beitrag zur regionalen Sicherheit und Stabilität geleistet.
Die Marineindustrie hat sich in Kiel in den letzten 25 Jahren bei den Beschäftig-en und beim Umsatz insgesamt äußerst positiv entwickelt. Der jährliche Wehrtechnik-Umsatz, der zwischen einer und knapp zwei Milliarden Euro liegt, schwankt ins-besondere abrechnungstechnisch bedingt aber sehr stark. Der Exportanteil am Umsatz beträgt rund 50 bis 70 Prozent und ist seit der Wende weitaus stärker als der Inlandsumsatz gewachsen. Der Marineschiffbau konnte in Kiel einen permanenten Anstieg der Beschäftigten von 2180 im Jahr 1995 auf 4486 (+106 %) im Jahr 2020 verzeichnen.
Auf dem ehemaligen Werftgelände von HDW in Kiel werden der starke Wandel und die strategische Neuausrichtung und wirtschaftliche Entwicklung des Schiffbaus besonders deutlich. Während 1992 in diesem Unternehmen von 4000 Beschäftigten nur 600 in der Wehrtechnik arbeiteten, sind jetzt 3463 Mitarbeiter im Marineschiffbau, 3081 bei Thyssenkrupp Marine Systems in Kiel und 382 bei German Naval Yards Kiel, und keiner mehr im zivilen Schiffbau beschäftigt. Diese Zahlen verdeutlichen den Wandel und die außerordentliche Bedeutung des Marineschiffbaus für die Stadt.
Vielfältige Unternehmen
Das in Kiel ansässige Schiffbauunternehmen Thyssenkrupp Marine Systems ist ein weltweit führendes, global agierendes Systemhaus für Design und Bau von U-Booten und Marineüberwasserschiffen sowie von maritimen Sicherheitstechnologien. Weitere Kompetenzen liegen in der Reparatur und Modernisierung von U-Booten und Überwasserschiffen sowie bei der Entwicklung und Integration von Komponenten.
Das zum Essener Thyssenkrupp-Konzern gehörende Unternehmen ist mit rund 6300 Beschäftigten an den Standorten Kiel, Hamburg und Emden die Nummer drei der deutschen Wehrtechnik. Thyssenkrupp Marine Systems hat seit 1960 mit 20 Staaten Verträge für den Bau von 169 U-Booten geschlossen. Davon wurden 112 in Deutschland hergestellt und weitere 57 aus vorgefertigten Materialpaketen im jeweiligen Kundenland. Damit ist es weltweit marktführend im Bereich der konventionellen U-Boote. Hinzu kommen Entwicklung und Design modernster Fregatten, Korvetten und Marineunterstützungsschiffe.
Während 1992 der Anteil der Beschäftigten im Handelsschiffbau noch 85 Prozent betrug, ging dieser im Lauf der Jahre kontinuierlich zurück. Im Gegenzug konnte das Unternehmen einen starken Anstieg der Beschäftigten im wehrtechnischen Be-reich verzeichnen. Gleichzeitig ist der Umsatz mit Militärtechnik stark angestiegen.
German Naval Yards Kiel ist eine auf Planung und Bau großer, hoch integrierter Marineschiffe wie Fregatten, Korvetten und Offshore Patrol Vessel (OPVs) spezialisierte Werft, die zur Privinvest-Gruppe mit Sitz im Libanon gehört. Mit der Übernah-me der Überwasserschiffbauwerft HDW Gaarden GmbH von Thyssenkrupp entstand im Jahr 2011 ein neuer, leistungsfähiger Werftenverbund.
Elac Sonar ist ein Kieler Traditionsunternehmen für hydroakustische Systeme. Das Produktportfolio umfasst innovative Sonarsysteme, Echolote und Multibeamanlagen sowie Unterwasserkommunikationssysteme für militärische und zivile Anwendungen. Elac hat 138 Beschäftigte in der Wehrtechnik.
Hagenuk Marinekommunikation, dessen Unternehmensgeschichte bis in das Jahr 1899 zurückgeht, ist mit 208 Wehrtechnik-Beschäftigten ein Systemanbieter der militärischen Kommunikationstechnologie für Überwasserschiffe und U-Boote. In Europa ist das Unternehmen Marktführer für integrierte U-Boot-Kommunikationssysteme und weltweit einer der führenden Hersteller von integrierten Funkfernmeldeanlagen.
Hensoldt ist mit 50 Wehrtechnik-Beschäftigten am Standort Kiel auf dem Gebiet der Verteidigungselektronik für die Installation und Integration sowie die Inbetriebnahme von elektronischen Anlagen, Systemen und Geräten aus den Bereichen Radar, Aufklärung und Kommunikation sowie für die Systembetreuung insbesondere für die Bundeswehr, aber auch für ausländische Streitkräfte zuständig.
Das 1905 als Anschütz in Kiel gegründete Traditionsunternehmen Raytheon An-schütz gehört heute zum Weltkonzern Raytheon Technologies. Es beschäftigt am Firmensitz in Kiel 555 Mitarbeiter, davon 185 in der Wehrtechnik und ist weltweit einer der führenden Hersteller von integrierten Navigations- und Brückensystemen sowie nautischen Geräten. Zu den Kunden zählen mehr als 60 Marinen und Behörden.
Der global agierende Technologiekonzern Rohde & Schwarz hat 2019 in Kiel ei-ne Betriebsstätte mit dem Ziel gegründet, die Entwicklungsaktivitäten an diesem Standort auf das nationale und internationale Marinegeschäft zu konzentrieren. Rohde & Schwarz beschäftigt 55 Mitarbeiter.
J.P. Sauer & Sohn Maschinenbau mit Sitz in Kiel ist die Firmenzentrale der mittelständischen Unternehmensgruppe Sauer Compressors mit zwölf internationalen Gesellschaften. Das Unternehmen entwickelt, produziert und vertreibt mit 90 Wehr-technik-Beschäftigten Mittel- und Hochdruckkompressoren für Anwendungen in den Bereichen Marine, Schifffahrt, Industrie und Petroleumindustrie.
Die zum französischen Thales-Konzern gehörende Thales Deutschland GmbH konzipiert und implementiert an ihrem Naval-Kompetenzzentrum am Standort Kiel mit 260 Beschäftigten Kommunikations- und Navigationssysteme für Überwasser-schiffe für die Deutsche Marine und internationale Kunden.
Neben den System- und Komponentenherstellern sind in Schleswig-Holstein zahl-reiche weitere Zulieferer und Dienstleister im Marineschiffbau tätig. Zu ihnen zählen Ferchau, Heitec, Meos und Scope-Engineering.
Perspektiven
Die in Kiel ansässige Bundeswehr und die Marineindustrie haben durch das Ende des Kalten Kriegs einen tiefgreifenden Wandel vollzogen, zum einen verursacht durch massive Truppenreduzierungen infolge der drastischen Unterfinanzierung der Bundeswehr, zum anderen durch die Ausrichtung auf das internationale Krisenmanagement.
Jetzt erfordern die Bündnis- und Landesverteidigung sowie die veränderte sicherheitspolitische Lage im Ostseeraum auch für die in Kiel stationierte Bundes-wehr nach den umfangreichen Personal- und Materialreduzierungen den Aufbau zusätzlicher militärischer Kapazitäten und neuer Fähigkeiten. Die dafür benötigte Ausrüstung muss jetzt in einem weitsichtigen, partnerschaftlichen Zusammenwirken von Politik, Bundeswehr und Industrie zeitgerecht beschafft werden.
Die Kieler Unternehmen müssen sich auch weiterhin strategisch erfolgreich aus-richten, ihre Flexibilität und Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen sowie mit neuen leistungsfähigen Produkten im In- und Ausland ihre wettbewerbsfähige Marktposition erhalten. Die Stadt Kiel, die bis heute stets ein kritisches Verhältnis zum Militärischen hatte, sollte anerkennen, dass sie nicht nur sailing city ist, sondern dass Bundeswehr und Rüstungsindustrie einen unverzichtbaren Beitrag zu Frieden und Freiheit unseres Landes leisten und gleichzeitig bedeutende Teile der Wirtschaft in der Stadt darstellen.
Dieter Hanel ist Vorsitzender des Arbeitskreises Wehrtechnik beim Unternehmens-verband in Schleswig-Holstein und Autor Buchs „Bundeswehr und Verteidigungsindustrie. Sicherheit und Technologie in Schleswig-Holstein“
Dieter Hanel
0 Kommentare