Führen steht im Mittelpunkt der Ausbildung an der Marineschule Mürwik. Durch eine weitgehende Orientierung an der Praxis sollen Offiziere und Offizieranwärter für ihre zukünftige Tätigkeit begeistert werden. Der Signal zum Manöveranpfiff schrillt laut durch den Hafen kurz nachdem Auslauf- und Sicherheitsbriefing auf den Manöverstationen durchgeführt worden sind. Es wird ausgelaufen gemäß departure order. Nach dem Passieren der Molenköpfe signalisiert der Divisionsführer die erste Formationsänderung für die Kiellinie mit 14 Einheiten. Gleichzeitig schwitzen junge Marineoffiziere auf den Brücken Ihrer Einheiten, sie halten ihre Navigator´s Notebooks in den Händen und wenden bei dichtem Nebel ihre Kenntnisse im blind pilotage an. Andere junge Offiziere blicken in diesem Augenblick konzentriert auf ihre Laptops. Sie sind mit dem British Royal Naval College in Dartmouth verbunden und verfolgen gespannt die leaderships lessons eines ehemaligen britischen Commodores, der auf der im Falklandkrieg versenkten HMS Coventry diente. Das fesselnde Thema heisst: „What attributes should an Officer show during Battle Action?“
Szene 1 spiegelt die Militärische Segelausbildung an der Marineschule Mürwik wider. Sie verfolgt das Ziel, unsere Offizieranwärterinnen und Offizieranwärter mit der See vertraut zu machen und dabei auch frühzeitig eine möglichst flottennahe Ausbildung zu gestalten. Daher sollen die Standards der Flotte auf den sieben brandneuen Sunbeam-Segelyachten und auf den bewährten Hanseaten angewendet werden.
Szene 2 beschreibt die Abschlussprüfung der Teilnehmer des Wachoffizier-Lehrgangs, dem Flaggschiff der nautischen Ausbildung, in einem der modernsten Schiffsführungssimulatoren Europas. Die Seefahrt mit Prüfungscharakter findet in der im Jahr 2018 runderneuerten Ausbildungsausstattung Nautische Schiffsführung (AANS) statt, da Flotteneinheiten nicht zur Verfügung stehen.
Szene 3 ist Teil des postuniversitären Führungslehrgangs. Nicht nur in Wehrgeschichte, sondern auch im Fach Führungslehre wird der Falklandkrieg thematisiert und vermittelt Gefechtserfahrungen aus dem jüngsten dreidimensionalen Seekrieg.
Die geschilderten Szenen sind nur drei Facetten aus einer Vielzahl von Ausbildungselementen, die das Ziel verfolgen, den Führungsnachwuchs der Deutschen Marine vom ersten Tag an maritim zu prägen, Führungsexpertise zu entwickeln und die Lehrgangsteilnehmer im weiteren Verlauf ihrer Ausbildung an die anspruchsvollen Aufgaben ihres ersten Dienstpostens heranzuführen. Führung ist das Kernthema, das die Grundlage jedes einzelnen Lehrgangs an der Marineschule ausmacht. Daneben ist die Nautik die zweite Kernkompetenz, die an der Marineschule in unterschiedlicher Graduierung vermittelt wird. Der praxisorientierte Wachoffizierlehrgang für zukünftige Brückenoffiziere steht dabei im Zentrum.
Führen als Mittelpunkt aller Lehrgänge
Die Ausbildung im Bereich der Führungskompetenz wird nicht durch bloße Wissensvermittlung bestimmt. Vom ersten Tag an soll der zukünftige Offizier maritim geprägt und für den Dienst in der Marine begeistert werden. Darüber hinaus gilt es, ihn wo immer möglich durch eine handlungs- und kompetenzorientierte Ausbildung mit seiner Rolle als künftiger Vorgesetzter zu konfrontieren. Nur durch das Machen erwerben die Frauen und Männer Kompetenzen im Bereich der Führung und den praktischen Anwendungsfeldern der Inneren Führung.
Schon in dieser ersten Phase der Ausbildung werden die Offizieranwärter in die Pflicht genommen, die Grundlagen des militärischen Führungsprozesses zu verinnerlichen. Es gilt, den zukünftigen militärischen Führer hinsichtlich seiner Persönlichkeit, seines Verantwortungsbewusstseins und Führungswillens, seiner Urteilskraft und seinem fachlichen Können auszubilden und zu prägen. Wenn auch nur rudimentär, werden bereits die Offizieranwärter mit einfachen taktischen Lagen konfrontiert, die von ihnen eine auf strukturierter und systematischer Gedankenführung basierende Entscheidungsfindung, Planung und Befehlsgebung fordern. Darüber hinaus werden in den Laufbahnlehrgängen für die Offizieranwärter des Truppendienstes und des Militärfachlichen Dienstes grundlegende Rechtskenntnisse vermittelt.
Der postuniversitäre Führungslehrgang ist dann als Seminar angelegt. In einer Rahmenlage als Stabsangehöriger soll die Handlungskompetenz als militärischer Vorgesetzter durch Anwendung des militärischen Führungsprozesses Marine, der Grundlagen der Personalbearbeitung und des Beurteilungswesens, durch das Erstellen von schriftlichen Befehlen, der Anwendung von Wehrrecht und der Vertiefung der Inneren Führung entwickelt werden. Im Kontext des Selbstverständnisses als militärischer Führer ist das eingangs erwähnte britisch-deutsche Leadership-Seminar zu sehen. Teilnehmer des Führungslehrgangs bereiteten dabei erstmals in diesem Frühjahr weitgehend eigenverantwortlich eine digitale Konferenz vor. Ausgehend von einem Bericht über die Erfahrungen eines ehemaligen Wachoffiziers im Falklandkrieg wurde zusammen mit dem Befehlshaber der Flotte und seinem britischen Pendant diskutiert, welche Ansprüche das Gefecht als anspruchsvollste Form militärischer Führung an Marineoffiziere stellt.
Angehende Disziplinarvorgesetzte, wie Bootskommandanten, Erste Offiziere und Kompanie- und Inspektionschefs, werden im Einheitsführerlehrgang weitergebildet. Insbesondere Disziplinarrecht für Einheitsführer, Personalmanagement und das Beurteilungswesen werden dort vertieft.
Die höchste Ebene der Vorgesetztenfortbildung an der MSM bildet der Kommandeurlehrgang. Dessen Zielsetzung ist es, ein ebenübergreifendes Führungsverständnis innerhalb der Marine aufzubauen. Hier werden zukünftige Schiffskommandanten, Geschwader- und Lehrgruppenkommandeure für ihre Aufgaben im Seminarrahmen weitergebildet. Das Schwergewicht liegt dabei auf den Handlungsfeldern Führung, Wehrrecht, Personalführung und Pressearbeit. Die Marineschule Mürwik betont dabei den Anspruch, den gesamten Führungsnachwuchs nicht nur auf Einsätze im Rahmen des internationalen Krisenmanagements, sondern auf die Befähigung zur mehrdimensionalen Seekriegsführung vorzubereiten, was später auf Fachlehrgängen und während der weiteren Ausbildung in der Flotte vermittelt wird.
Die Crews werden heterogener
Die Marineschule bildet den äußeren Rahmen für ein Alleinstellungsmerkmal innerhalb unserer Streitkräfte: In jedem Einstellungsjahrgang entwickelt sich ein besonderer Lebensbund, der für Kameradschaft, Freundschaft und professionelles Networking steht: die Crew. Dieser Crewgedanke lebt freilich nur, wenn er ausgestaltet und mit Engagement zum Leben erweckt wird. Die heterogene Zusammensetzung unserer gegenwärtigen Offizieranwärter-Crews stellt den angestrebten Crewgeist vor Herausforderungen. Die Zeiten, in denen alle Angehörigen einer Crew mit 19 Jahren ihre Offizierausbildung starten, ist längst vorbei. In der Crew 2021, die zu je einem Drittel ihren Dienst Anfang Juli, Mitte August und Anfang Oktober dreizügig antrat, erstreckt sich das Altersband von 17 bis 45 Jahre.
Auch im Offizierlehrgang des Militärfachlichen Dienstes ist eine Alters- und Dienstgradspreizung von 27 Jahren bis 52 Jahre, vom Oberfähnrich zur See bis zum Oberstabsbootsmann OA, gegeben. Diese größere Diversität bereichert unsere Marine. Die Formung und der Entstehungsprozess einer Crew wird jedoch damit nicht leichter und stellt besondere Anforderungen an die Vorgesetzten in der Offizierausbildung.
Wenig Zeit an Bord
Während die zukünftigen Truppenoffiziere in der Vergangenheit vor dem Studium bis zu 20 Wochen eingeschifft waren und auf diese Weise See und Seefahrt an Bord erleben konnten, so haben Offizieranwärter von heute oft nur zwei bis vier Wochen Zeit dazu. Die Dimension See erlebbar zu machen, ist eine Herausforderung der Marineschule Mürwik. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Mehrjähriger Ausfall des Segelschulschiffs Gorch Fock, keine Destroyer Exercise, kein Einsatzausbildungsverband oder Schulgeschwader seit vielen Jahren und eine geringe Verfügbarkeit von Schiffen und Booten der Flotte, die im Sommerquartal OAs ein Praktikum zur See ermöglichen können. Für die angestrebte Prägung und Ausbildung stehen 15 Monate zur Verfügung, bevor es für die meisten Offizieranwärterinnen und Offizieranwärter des Truppendienstes in ein rund vierjähriges Studium an einer der Bundeswehruniversitäten geht. Dort werden die jungen Kameraden und Kameradinnen sich wesentlich entwickeln, reifen und auch individuelle und gegebenenfalls neue Vorstellungen für ihre Laufbahn entwickeln. Deshalb kann die Prägung als Crew nur vor dem Studium und mit dem Erlebnis der See gelingen. Um dieses Ziel zu erreichen, gestaltet die Marineschule die voruniversitäre Ausbildung mit möglichst vielen praktischen Anteilen und möglichst wenig Theoriestunden im Hörsaal. Dabei versuchen wir mit der Militärischen Segelausbildung die Standards der Flotte anzuwenden. Die Dienstsegelboote werden als force multiplier genutzt. Neben der Vermittlung seglerischer Fähigkeiten werden bewusst einzelne Facetten des Dienstes in der Flotte, darunter Befehls- und Meldesprache, Bordzeremoniell, Standardisierung, Verfahrensdisziplin, Briefingkultur, an Bord der Segelboote praktiziert. Hier dürfen Fehler gemacht werden. Zusätzlich verfolgt die Marineschule nach wie vor das Ziel, Einschiffungen an Bord von Einheiten der Flotte wann immer möglich zu realisieren. Damit sollen Berufsbilder etwa als Brückenwachoffizier, als Schiffstechnik- oder IT-Offizier entwickelt werden und eine Bindung an zukünftige militärische Heimatverbände (Einsatzflottille 1 oder 2, Marinefliegerkommando) initialisiert werden.
Ausbildung digital
Die Generation Z, die Digital Natives, fordern die Ausbildenden der Marine mit ihren etablierten Methoden heraus. Es entsteht ein Spannungsfeld, einerseits die Ausbildung zu modernisieren – häufig unter Nutzung digitaler Methoden – und gleichzeitig die notwendigen und bewährten Charakteristika unserer Marine zu bewahren.
Im Frühjahr 2020 wurde es kurzfristig erforderlich, eine „digitale MSM“ zu erschaffen, um den besonderen Herausforderungen der beginnenden Coronapandemie zu begegnen. Dies erzeugte eine positive Eigendynamik und hohen Innovationsdruck. Mittlerweile verfügt die MSM über ein digitales Lern-Management-System (LMS), das es Lehrern und Trainingsteilnehmern ermöglicht, unabhängig von ihrem Aufenthaltsort auf Ausbildungsinhalte zuzugreifen. Alle Trainingsteilnehmer können mit moderner, mobiler IT ausgestattet werden. Dieser Prozess wird ungeachtet der weiteren Pandemieentwicklung fortgesetzt. Digitalisierte Ausbildung wird so eine langfristige Ergänzung traditioneller Wissensvermittlung und weckt neue Potenziale.
Führen lernen als stetiger Prozess
Vom Matrosen OA bis zum Fregattenkapitän begegnen sich an der Marineschule Offiziere und solche, die es werden wollen. Verbunden sind sie in ihrer Lernwelt durch das Thema Führen. Zurück zu den Eingangsszenen. Zeitgleich zu den Manövern im Bootshafen und der Blind-pilotage-Ausbildung in der AANS stehen im großen Lehrsaal im Turm der MSM junge Offizieranwärter vor einem Smartboard und folgen dem Vortrag eines aufgeregten Crewkameraden über die elektronische Seekarte. Ein Deck tiefer diskutieren angehende Schiffskommandanten und Kommandeure beherzt über zeitgemäße Führung mit dem Kommandeur des Zentrums Innere Führung, der diesen Seminaranteil als Gastdozent leitet. Räumlich trennen beide Lerngruppen nur einige Meter. Der tägliche Dienst, Führungserfahrung und Handlungskompetenz könnten jedoch unterschiedlicher nicht sein. Dennoch sind sie sich näher als zunächst angenommen. Führen fordert ganzheitliches Denken, Kommunikation, Konfliktfähigkeit, Empathie und vieles mehr und bleibt dabei eine prägende und begeisternde Aufgabe. Auch die dienst- und lebenserfahrenere Gruppe in der Aula nimmt nicht für sich in Anspruch, ausgelernt zu haben. Niemand wird als Kommandant oder Kommandantin geboren. Führen lernen als stetigen Prozess fordernd und teilnehmerorientiert zu gestalten und dabei für den Dienst als Marineoffizier zu begeistern und zu prägen, ist die erfüllende Herausforderung für die Marineschule Mürwik.
Kapitän zur See Kurt Leonards ist Leiter Lehre und Kommandeur der Lehrgruppe Ausbildung, Korvettenkapitän Udo Sonnenberger ist Lehrstabsoffizier Wehrgeschichte an der Marineschule Mürwik.
Fotos: Bundeswehr/Björn Wilke
„Fachoffiziere“ kommen an die MSM mit der Voraussetzung SgTechniker/Betriebswirt.
Anzuregen ist die Anrechnung der militärfachlichen/soldatischen Fortbildung zum Offizier für ein Hochschulstudium zum Bachelor.
Möglich ist dies bei den Stabsoffizierslehrgängen an der Führungsakademie zum Master Schutz und Sicherheit an der BW-HS Hamburg.
Was bei Stabsoffizieren möglich ist, sollte auch bei Fachoffizieren machbar sein.