Rheinmetall und WilNor Governmental Services begründen Partnerschaft zur Munitionsaltlastenentsorgung in deutschen Gewässern - Quelle: Rheinmetall

Rheinmetall und WilNor Governmental Services begründen Partnerschaft zur Munitionsaltlastenentsorgung in deutschen Gewässern - Quelle: Rheinmetall

Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee: Kommt Bewegung in ihre Beseitigung?

Aus einer auf der Onlineplattform für das öffentliche Auftragswesen, TED, Mitte Juli veröffentlichten Bekanntmachung lässt sich entnehmen, dass das Projekt Bergung und Vernichtung von Altmunition in Nord- und Ostsee Fahrt aufnimmt. Dem Anschein nach im Deutschlandtempo.

Bundesumweltministerin Steffi Lemke kündigte am 17. Februar 2023 auf einer Auftaktkonferenz ein Sofortprogramm an und verwies auf die diesbezügliche Vereinbarung im Koalitionsvertrag. Ihr Ministerium vergab, so die Bekanntmachung auf TED, am 30. Juni an das Forschungszentrum Jülich GmbH – Projektträger Jülich den Auftrag zur verwaltungsmäßigen Abwicklung und zur technischen Beratung als Vergabestelle zur Vergabe eines Pilotprojektes. Fachkreise erwarten die Ausschreibung für einen Pilot ‚einer mobilen, schwimmenden Entsorgungsanlage für Munitionsaltlasten‘ und hoffen auf ihre baldige Bekanntmachung.

Aufstellung der Speerspitzen

Rheinmetall Project Solutions, German Naval Yards und WilNor Governmental Services: EMMA

Am 31. August 2023 gab Rheinmetall bekannt, dass der Düsseldorfer Konzern bei der Beseitigung von Altmunition und Blindgängern in (vorerst) deutschen Gewässern mit der norwegischen WilNor Governmental Services zusammenarbeiten will. Acht Tage zuvor, am 23. August 2023, liess GERMAN NAVAL YARDS GmbH verlauten, dass sich die Werft gemeinsam mit dem Unternehmen Rheinmetall Project Solutions GmbH und einem weiteren Partner aus dem Offshore-Bereich um den Bau einer Plattform zur Entsorgung von Munition aus der Ostsee bewirbt.

Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee: Kommt Bewegung in ihre Beseitigung?

Konsolidiert ergibt dies, dass sich die Rheinmetall-Tochter Rheinmetall Project Solutions GmbH, GERMAN NAVAL YARDS und WilNor Governmental Services um den gemeinsamen Bau und den Betrieb einer Offshore-Plattform für die Munitionsentsorgung bemühen. Schon Anfang 2024 wollen sie projektorientierte Untersuchungen und die das Vorhaben vorbereitenden Arbeiten aufnehmen, um bereits im Sommer 2024 einsatzfähig zu sein.

Der deutsche Technologiekonzern Rheinmetall bringt seine langjährigen Erfahrungen und Kenntnisse mit Delaborierung und Munitionsentsorgung ein. WilNor Governmental Services bietet in Norwegen – und darüber hinaus international – militärische Logistikdienstleistungen für Land-, Luft- und Seestreitkräfte. Als Tochterunternehmen der Wilhelmsen-Gruppe kann der Dienstleister auf das Know-how und das Netzwerk der Mutter zurückgreifen, das die maritime Industrie, Offshore-Logistik und -Technologie, erneuerbare Energien, Schiffsmanagement und logistische Lösungen für den Betrieb unter Offshore-Bedingungen umfasst. Mit GERMAN NAVAL YARDS steht eine leistungsfähige Werft zur Seite.

 

Womit eine arbeitsteilige Projektierung des Piloten erkennen lässt: Wilhelmsen für die mehr logistischen (Unterstützung, Versorgung, Entsorgung) wie operativen Anteile (die sogenannten Marine Operationen) einschließlich ihrer Verfahren und der Sicherheitsaspekte, Rheinmetall für die Prozesskettenelemente EOD Operationen (Analyse, Festlegung, Bergung, Entsorgung) sowie die Unterwasser-Operationen (Scannen, Detektieren, Analysieren), GERMAN NAVAL YARDS für die Entwicklung und Fertigung der Plattform sowie Installation der Systeme und Anlagen.

Ihr Werftstandort in Kiel bietet zudem infrastrukturelle Voraussetzungen für das vorzusehende logistische und operative Kontroll- und Einsatzzentrum für den Betrieb einer oder mehrerer Plattformen (Hafen, Überwachungs- und Kontrollzentrum, Lager, SAR, Logistik Hub).

Mit EMMA, dem Entsorgung-Modul Munitions-Altlasten, wollen die Partner auf die zu erwartende Ausschreibung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit für die Kampfmittelbeseitigung reagieren. Eine erste Projektskizze wurde auf unsere Nachfrage für September in Aussicht gestellt.

Mark Siever, Director Corporate Affairs & Business Development bei GERMAN NAVAL YARDS : „Durch die Bündelung aller Fähigkeiten, Erfahrungen und Ressourcen sehen wir uns zusammen mit unseren Partnern in bester Ausgangslage, nicht nur alle einzelnen notwendigen Prozessschritte berücksichtigen, sondern – und das ist der Knackpunkt – auch die gesamte Prozesskette vom Survey bis zum Recycling, beherrschen zu können!“ Nach Einschätzung der Partner könnte EMMA bereits 2024 loslegen und jährlich bis zu 1.200 t Nettoexplosivmenge bergen und vernichten.

thyssenkrupp Marine Systems: UxO

Die andere Kieler Werft thyssenkrupp Marine Systems stellte bei einer Fachtagung im September 2021 das Projekt UxO vor. Es umfasst die gesamte Prozesskette von der Detektion über die Bergung bis zur Entsorgung. Auch bei UxO handelt es sich um eine Plattform, auf der die Munition delaboriert und (umweltschonend) entsorgt wird. Zur Bündelung von Kompetenzen im nicht-militärischen Bereich gründete thyssenkrupp Marine Systems im Juli 2023 die Geschäftseinheit NXTGEN. Deren Chefin Lisa Thormann: „Eines der Projekte, die wir weiter vorantreiben, ist das Konzept zur industriellen Räumung und Entsorgung von Altlasten im Meer.“ Nach eigenen Angaben benötigt thyssenkrupp Marine Systems für die Pilotanlage „eine Vorbereitungszeit von ca. zwei Jahren bis zur Aufnahme des Regelbetriebs.“

s. PDF UxO

Beiden Vorhaben ist eine integrale Behandlung aller Elemente in der Prozesskette gemeinsam: Detektion – Identifikation – Risikoanalyse – Bergung – weitere Behandlung. Zur Veranschaulichung: Die geförderte Munition würde auf einer verankerten Plattform in einer containerisierten Anlage delaboriert, d.h. zerschnitten werden. Dabei wird der Sprengstoff von den anderen Bestandteilen getrennt und in speziellen Öfen auf der Plattform verbrannt. Die freiwerdenden Gase können nicht nur gefiltert, sondern auch den Umweltschutznormen entsprechend behandelt werden. Die ‚nichtflüchtigen‘ Bestandteile der Munition, wie Metalle könnten wiederverwendet werden.

Zur Bergung bedient man sich spezieller Bagger oder Greifer, die von einer weiteren, mobileren Plattform aus zum Einsatz kommen. Oder mit entsprechenden Vorrichtungen ausgestatteten Unterwasserdrohnen, die neben der manipulativen Aufnahme- auch über sichere Lagerung- oder Transportmöglichkeit verfügen.

Kampfmittelbeseitigung: eine überfällige Aufgabe

Fachleute schätzen die Gesamtmenge der in die deutschen Anteile von Nord- und Ostsee verbrachten Munition und -komponenten auf 1,6 Millionen Tonnen. Dabei entfallen 300.00 Tonnen auf die deutsche Ostsee. Das Problem macht vor Grenzen nicht Halt. Ein niederländischer Vertreter bezifferte bei einer Fachtagung die Munitionsaltlasten in den niederländischen Anteilen der Nordsee mit 60.000 Tonnen. Hinzu kommen 30.000 Tonnen in der Oosterschelde. Hinzu kommen Bestände chemischer Waffen. Die Helsinki-Kommission berichtet, dass mindestens 50.000 Tonnen chemischer Munition, darunter Artilleriegranaten und Flugzeugbomben, in der Ostsee versenkt sind sowie Behälter mit 15.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe (Zahlenangaben der EU Kommission auf Anfrage des Europäischen Parlamentes, E-000635-16, aus dem Jahr 2016). 90 Tonnen finden sich in den deutschen Anteilen der Nordsee, 5.000 Tonnen in den deutschen Anteilen Ostsee (Zahlenangaben vom Umweltbundesamt, Stand September 2021).

PDF Karte Altlasten in Nord- und Ostsee

Die Munitionskörper sind am Meeresboden in unterschiedlichen Zuständen anzutreffen, die von wenig korrodiert und (noch) komplett verschlossen bis hin zu durchgerostet und zerstört mit offen liegendem Inhalt reichen.

Problembewusstsein allein reicht nicht

Ist die Entsorgung historischer Munitionsrückstände, die als UXO bezeichnet werden (unexploded ordnance), schon per se virulent – ihre Präsenz gefährdet die maritime Sicherheit und die Konstruktion von Einrichtungen im Küstenvorfeld und im offenen Meer –, erhält sie durch die künftigen Offshore-Windkraftanlagenparks einen weiteren Impetus. Nichtexplodierte Kampfmittel werden zunehmend instabil. Sie werden damit latent riskant. Außerdem geht von ihnen eine Gefahr für die Umwelt aus. Das GEOMAR Helmholtz Zentrum für Ozeanforschung, Kiel, konnte in der Ostsee chemische Kontamination, die auf Munition zurückzuführen ist, anhand von mehr als 2.000 Wasserproben nachweisen (Stand September 2021). Die Giftstoffe gelangen nicht nur ins Meer, sondern auch in die Nahrungskette. Wissenschaftler sprechen bei Anreicherung einer Substanz in einem Organismus durch Aufnahme aus dem umgebenden Medium oder über die Nahrung von Bioakkumulation. Bei in der südwestlichen Ostsee entnommenen Stichproben wurden Munitionskomponenten bei 98 Prozent von Meeresorganismen entdeckt (GEOMAR Helmholtz Zentrum für Ozeanforschung). Das Thünen-Instut, eine Bundesforschungseinrichtung für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, stellte bei 25 Prozent der Klieschen, einer Schollenart, aus dem Versenkungsgebiet Kolberger Heide in der Kieler Bucht Lebertumore fest. Die Tumorrate bei Klieschen aus unbelasteten Gebieten lag bei knapp 5 Prozent.

PDF zum Zustand von 'dumped ammo'

Mittlerweile hat sich das Problembewusstsein geschärft. Die Detektion der UXO, ihre Bergung, das Unschädlichmachen und Entsorgen bieten Potenzial für Innovationen und technologischen Fortschritt. Künstliche Intelligenz wie Techniken zur Bewältigung der Datenmengen kommen zum Einsatz. Das Fraunhofer Institut für Graphische Datenverarbeitung will mit dem Projekt Marispace-X einen digitalen Datenraum für maritime Einsätze schaffen und dabei unabhängig von amerikanischen und asiatischen Cloudanbietern bleiben. Marispace-X wird mit 15 Millionen Euro vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz gefördert.

Auch international gibt es zahlreiche Bestrebungen zur Annäherung an die Problematik. In der NATO befasst sich das ‚Centre for Maritime Research and Experimentation‘ in La Spezia mit den Auswirkungen von versenkter Munition und der Nutzung autonomer Systeme, Künstlicher Intelligenz und anderer Techniken zu ihrer Beseitigung. Am Sitz des Kompetenzzentrums in La Spezia wurde ein 200x500 Meter großes UXO-Testfeld eingerichtet.

Auffällig: bei der Beseitigung von Munitionsaltlasten in den europäischen Meeren fällt den nationalen Marinen eine führende Rolle zu. Ausnahme: Deutschland. Dabei verfügt die Deutsche Marine über einzigartige lokale Kenntnisse, die bei der Lokalisierung und Identifikation eingebracht werden könnten. Ebenso wie die Expertise bei der sicheren Sprengung von Munition, die auf Grund von Korrosion nicht geborgen werden können. Darüber hinaus könne die Marine auch Fähigkeiten in der Datenspeicherung, Datenaufbereitung und -bereitstellung einbringen. Aufgrund der konstitutionellen Umstände beschränkt sich ihr Wirken auf ‚Beitragen‘, sie kann nur im Rahmen von Amtshilfeersuchen die Bundesländer unterstützen.

Más y más Rápido - oder: Verschieben ins nächste Jahrtausend!

Die Bundesregierung hat die Zeichen erkannt … und verfolgt die Munitionsaltlastenbeseitigung in Nord- und Ostsee eher halbherzig. Schon der Auftrag zur Begleitung des Vergabeverfahrens musste neu aufgelegt werden. Dabei hieß es am 17. Februar: „Mit dem nun gestarteten Planungs- und Koordinierungsvorhaben haben wir den ersten wichtigen Schritt in Richtung eines Konzeptes und zur technischen Realisierung einer Pilotanlage zur Bergung und Vernichtung von Altmunition getan.“, so die Bundesumweltministerin Steffi Lemke.

Zur Finanzierung hat Berlin 100 Millionen Euro für die Munitionsbergung bis 2025 zur Verfügung gestellt, für 2023 wurden 28 Millionen Euro projektiert. Die EU stellte über den Regionalen Entwicklungsfond von 2011 bis 2021 Haushaltsmittel in Höhe von 10,13 Millionen Euro zur Verfügung.

Angesichts der Dimensionen des Unterfangens und der reellen Betroffenheit erscheint dies als ein Tropfen auf den heißen Stein. Zur Veranschaulichung ein Rechenexempel, das auf offizielle Zahlen zurückgreift und auf die in Kampfmittelsondierung, Räumung und Sprengung spezialisierten SeaTerra GmbH zurückgeht: 1.764,055 Tonnen wurden durchschnittlich in den Jahren 2013-2021 geborgen. Ohne Ausweitung der Kapazitäten benötigte man also zur Bergung allein des deutschen Aufkommens (1,6 Millionen Tonnen, s.o.) 907 Jahre. Mit der von den Partnern angepeilten Kapazitäten würde sich mit einer einzigen "EMMA" die jährliche Menge auf knapp 3.000 Tonnen erhöhen. Womit im Jahr 2564 ein 'Mission completed' erwarten werden könnte.

Tabelle der Meldestelle - PDF

Insofern ist das Motto des Hohen Vertreters der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, das er gerne im Zusammenhang mit der Unterstützung für die Ukraine durch die EU und ihre Mitgliedsstaaten anbringt, auch hier angebracht: mehr – und schneller!

Wenn Deutschlandpakt, dann auch hier!

Mit entschlossener politischer Begleitung könnte sich Deutschland einen technologischen Vorsprung und daraus abgeleitet auch wirtschaftliche Vorteile erarbeiten. Experten sehen einen Bedarf an 15 bis 20 derartiger Einrichtung zur Kampfmittelbeseitigung. Deutschland verfügt über Unternehmen mit Erfahrungen auf dem Gebiet Schiffbau sowie der Entwicklung und Konstruktion unbemannter Systeme ebenso wie auf dem Gebiet Munitionsdelaborierung und Entsorgung. Lösungsvorschläge liegen vor, aufbauend auf eingeführte Systeme. Der Startschuss zur technischen Machbarkeit der industriellen Bergung und Entsorgung ist lange überfällig.

Somit erinnert die aktuelle Berliner Vorgehensweise an eine Episode aus Heinz Erhardts Erzählungen. Er kam bei seinem damaligen Abstecher an die Riviera angesichts der von den Hotels ausgehenden im Wasser endenden Rohre zu dem Schluss: „… und so trifft man jeden Morgen beim Schwimmen gute alte Bekannte.“ Insofern kann man bei einem Ostseeurlaub froh sein, wenn es bei den von ihm bemühten organischen Hinterlassenschaften bliebe.

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