Der Jahresbericht 2022 der Wehrbeauftragten zeugt von der Unfähigkeit, zeitnah die Missstände in den Streitkräften zu beseitigen. Trotz reichlich vorhandener Gelder.
Gut ein Jahr nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner „Zeitwende“-Rede die Modernisierung der Bundeswehr angekündigt hat, zieht die Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl, in ihrem 171 Seiten starken Jahresbericht 2022 eine ernüchternde Bilanz. Die Zeitwende ist bisher noch nicht bei der Truppe angekommen. Die Bundeswehr steckt seit Jahrzehnten unverändert in einer Personal-, Ausrüstungs- und Beschaffungskrise und kämpft mit den seit Jahren bekannten und unveränderten Problemen grundsätzlicher Art: Gravierender Materialmangel und marode Infrastruktur, Ausrüstungs- und Personalmangel, überbordende Bürokratie sowie zu lange und behäbige Planungs- und Vergabeverfahren bei der Beschaffung sind die Ursachen für eine völlig unzureichende Einsatzbereitschaft der Truppe. Einsatzbereitschaft bedeute aber eine personell gut aufgestellte Bundeswehr, eine zeitgemäße Infrastruktur, klare Strukturen und schlanke Prozesse, die beschleunigen statt bremsen. Zudem fehlen Mut und Verantwortungsbewusstsein – zivil wie militärisch, betont der Bericht. 2022 dienten 183 051 Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr, etwas weniger als 2021. Die Truppe soll zwar bis 2031 auf 203 000 Soldaten anwachsen, doch das sieht Högl in weiter Ferne, zumal die Bewerbungen bei der Truppe 2022 um elf Prozent eingebrochen sind. Auch sind von den Dienstposten oberhalb der Mannschaftsdienstgrade derzeit rund 19 000 unbesetzt. Zudem hätten 27 Prozent der Zeitsoldaten den Dienst in den ersten sechs Monaten der Probezeit wieder quittiert, so Högl. Daher gebe es dringenden Handlungsbedarf beim Thema Personal: „Soldatin/Soldat ist kein Job wie jeder andere, denn sie leisten einen verantwortungsvollen und wertvollen Dienst für uns.“ Auch bemängelt sie, dass von dem 100 Milliarden Euro umfassenden Sondervermögen „noch kein Cent“ in der Truppe angekommen sei. Sie fordert daher eine schnelle Reform des Beschaffungswesens. Die Bundeswehr habe von allem zu wenig. Das betreffe Ausbildung, Übung und Einsatz. Es fehlten beispielsweise Nachsicht- und Funkgeräte, aber auch Großgerät wie Panzer, Flugzeuge und Schiffe. Allein ein zweistelliger Milliardenbetrag sei erforderlich, um Munitionsbestände aufzufüllen und Munitionslager zu bauen. Högl sagte, Verteidigungsminister Boris Pistorius fordere zu Recht zehn Milliarden Euro mehr für den Jahresetat: „Ich drücke die Daumen, dass er sich durchsetzt. Die Truppe braucht das Geld dringend.“
Der Bericht beklagt auch den desolaten Zustand vieler Unterkünfte, Kasernen, Sanitäreinrichtun-gen, Truppenküchen oder Sportplätze. Das liege nicht an mangelnden Finanzen, sondern an der langwierigen Umsetzung der Sanierungsprojekte. So wurde beispielsweise die erst 2017 fertiggestellte Schwimm- und Rettungsübungshalle im Marinestützpunkt Wilhelmshaven wegen Baumängeln bereits 2018 wieder geschlossen und ihre Wiedereröffnung erst 2024 in Aussicht gestellt. Die im Juli 2010 begonnene Sanierung der Schwimmhalle für Kampfschwimmer in Eckernförde ist nach über zwölf Jahren immer noch nicht beendet. Ihre Fertigstellung ist 2024 geplant. Wenn es bei dem gegenwärtigen Tempo bleibt, könnte es ein halbes Jahrhundert dauern, bis die Infrastruktur der Bundeswehr komplett saniert wäre, heißt es.
Der neue Jahresbericht legt die gravierenden Defizite der Bundeswehr schonungslos offen. In Friedenszeiten ist das schon höchst bedenklich. Aber im Jahr 2023, in dem mitten in Europa ein Krieg tobt, zeugen die Defizite auf ein Politikversagen während der vergangenen Jahrzehnte. Auch ist der Jahresbericht ein deutliches Alarmzeichen dafür, dass wir unseren Verpflichtungen für die Bündnis- und Landesverteidigung so nicht nachkommen können. Verteidigungsminister Pistorius betonte: „Wir haben keine Streitkräfte, die verteidigungsfähig sind, also verteidigungsfähig gegenüber einem offensiven, brutal geführten Angriffskrieg.“
Dieter Stockfisch
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