U-Boot Unterstützungs- und Rettungsschiff "SS750" der Kashtan-Klasse. Foto: Baltische Flotte

U-Boot Unterstützungs- und Rettungsschiff "SS750" der Kashtan-Klasse. Foto: Baltische Flotte

Nord Stream Sabotage - wer will das jetzt noch wissen?

Aus aktuellem Anlass hier im Vorgriff auf unser in wenigen Tagen erscheinendes Magazin "marineforum" ein Beitrag, der bereits vor drei Wochen geschrieben wurde, aber für die Printausgabe reserviert war. 

Nachdem der 85-jährige US-Investigativ-Journalist Seymour Hersh im Februar 2023 mit unbeweisbaren Kausalsträngen allen Menschen weis machen wollte, dass die USA als die bösen Spitzbuben auszumachen seien, die hinter den Sabotageakten gegen die Nord Stream Pipelines stehen, war es im März nach deutschen Ermittlungen eine segelnde Spezialistenbande ukrainisch-polnischer Provenienz, die das hochexplosive Material an weit auseinander liegenden Punkten auf etwa 80 Metern Wassertiefe fachgerecht hätte ausgebracht haben können.

Neues Narrativ

Fregatte "Yaroslav Mudryy" der Neustrashimiy-Klasse. Foto: Deutsche Marine

Zur Anwesenheit möglicher Verursacher der Explosionen an den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 tauchte Ende März eine weitere Version auf, diesmal zu russischer Präsenz in diesem Gebiet. Sie führt deutlich vor Augen, dass die Ostsee mitnichten ein "gläsernes Meer" ist, wie mancher vielleicht meinen möchte. Recherchen von t-online/ntv korrelieren nun gezielte nächtliche Kontrollfahrten dänischer und schwedischer Küstenwachboote am 21. September 2022 mit unerklärlichen Objektbewegungen, die außerhalb von terrestrischer Radar- und Sichtweite dort in dieser Nacht stattfindend per Satellit erfasst wurden. Größere Einheiten ohne jedwede elektronisch erfassbare Emissionen (sogenannte "dark ships") sollen in den bislang eigentlich völlig "uninteressanten" Gebieten der Pipelinetrassen durch einen Satellitendienst verschwommen erkannt worden sein. Dann fahren alarmgestartete Wachboote eilends auf diese Position und schauen erst einmal nach. Man findet natürlich nichts, aber vier Tage später (26.09.2022) knallt es dort.

Das Aufgebot

U-Boot Unterstützungs- und Rettungsschiff "SS750" der Kashtan-Klasse. Foto: Deutsche Marine

Allerdings folgte man schwedischerseits der Spur eines in Richtung Baltijsk/Kaliningrad ablaufenden Verbandes. Von dort war nämlich wenige Tage zuvor (eine Woche vor den Explosionen, so lässt es sich aus offenen Quellen rekonstruieren) ein kaum beachtetes Manöver der russischen Ostseeflotte gestartet. An dem nahmen u.a. die Fregatte Yaroslav Mudryy (Neustrashimy, Projekt 1154, 4.300 Tonnen), die beiden Steregushchiy-Korvetten Soobrazitelny und Stoiky (Projekt 20381, 2.200 Tonnen) sowie das Aufklärungsschiff Syzran (Alpinist-Klasse, Projekt 503R), ein vor vielen Jahren und in großer Stückzahl auch in Kiev gebauter, unauffälliger Hecktrawlertyp, teil.

DSRV "AS28", baugleich mit "AS26" der Baltischen Flotte. Foto: Russische Marine

Weitere wesentliche Mitspieler waren das U-Boot-Unterstützungs- und Rettungsschiff SS-750 der Kashtan-Klasse (Projekt 141, 6.200 Tonnen), das in der Ostsee als Mutterschiff für das mit Greifarmen ausgestattete AS-26 U-Boot-Rettungsmodul (Projekt 18551, Deep Sea Recovery Vehicle, DSRV) dient. Ebenfalls ganz offiziell dabei auch Kampfschwimmer der 313. Spezialkräfteeinheit (Spetsnaz) vom Stützpunkt Baltijsk - Elitesoldaten, ausgebildet für Sprengstoff- und Sabotageoperationen unter Wasser. Hinzu kamen noch zwei Rettungsschlepper, die sich ebenfalls entlang der polnischen Küste auf den Seeweg nach Westen machten.

Das Szenario

Korvette "Soobrazitelny" der Steregushchiy-Klasse. Foto: Michael Nitz

Alle im Dark-Modus - bis auf wenige Silence-Brüche. Alle im medialen Windschatten der nach ihrem Besuch in den baltischen Staaten westwärts ablaufenden USS Kearsage Amphibious Ready Group, die auch über Material und Fähigkeiten verfügt, Sabotageakte zu inszenieren. Alle russischen Einheiten vermutlich so koordiniert, dass Aufmerksamkeit gekonnt abgelenkt und Überwachungslücken der Anrainerstaaten maximal ausgenutzt wurden. Alle mit Fahrt- und Ausrüstungsparametern, die eine Konzentration der kritischen Fähigkeiten von Yaroslav Mudriyy und SS-750 an den Explosionsstellen möglich werden ließen. Und genau deren Schiffslängen (130 und 95 Meter) sollen per Satellit im besagten Gebiet der Pipeline NS1 in dieser Nacht festgestellt worden sein. Diese Angaben waren wohl auch der Auslöser für die dringlichen dänisch-schwedischen Kontrollfahrten. Für eine fliegende Aufklärung war der Vorgang aber dann doch nicht alarmierend genug, denn es war ja auch (noch) überhaupt nichts passiert.

Korvette "Stiky" der Steregushchiy-Klasse. Foto: Deutsche Marine

Und nun?

Und nun zeigen einige Finger wieder gen Osten. Aber kaum jemanden interessieren diese Angaben wirklich, denn auch sie treten nur für wenige Tage medial in Erscheinung.

Und nun? Seymour Hersh wird zunächst beachtet, aber je länger er spricht, um so zerfaserter seine Argumentationskette. Natürlich hat die Führung der USA ein vitales Interesse an einer Entkopplung deutscher Industrie von russischem Gas, auch um anschließend vorzugsweise wieder amerikanisches Fracking-Gas in die Leitungen zu pumpen. Natürlich hat das Weiße Haus gesagt, dass es Nord Stream stoppen werde - aber bis der Kreml den Hahn selbst zugedreht hat, floss das Gas fleißig weiter.

Die deutschen Ermittlungen bringen den bundesrepublikanischen Boulevard in Wallung, aber auch nur so lange, bis sich akribische Recherchen und Rekonstruktionen im Absurden vermutlich geheimdienstlicher Schleimspuren verlieren.

Und nun eine weitere Variante, die offensichtlich alle Ingredienzien enthält für einen subaquatischen Knalleffekt. Aber alle Informationen werden binnen zwei Tagen auf wundersame Weise von einer Wolke der Unwissenheit verschlungen.

Wer will das wissen?

Weiß man es nicht, oder will man es nicht wissen? Oder ist es besser - wie in so manchen Fällen - wohlwissend es lieber doch nicht zu wissen! Denn wem nützt es zu wissen, wer die Pipelines gesprengt hat? Einerseits steht zu befürchten, dass man sicher geglaubte Freunde verlieren könnte. Andererseits wäre ein weiterer irrationaler Akt "hybrider Kriegsführung" ein ziemlich abgründiger Hinweis zu möglichen Optionen auf einer gerade eben nicht unendlichen Skala der Eskalation. Zu wissen, wer es war, nützt also niemandem so richtig. Außer den Verkaufszahlen und Likes als Währung der kurzfristigen Sensationslust.

Wir mögen unendlich spekulieren und kommen doch kein Stück weiter. Aber irgendwer in den maritimen Operationszentralen und Nachrichtendiensten - so unsere tiefe Hoffnung als Außenstehende - muss sich doch schon sehr früh ein relevantes Bild zurecht gepixelt haben. Oder bestätigt sich gerade die Befürchtung, dass wir tatsächlich nichts gesehen und keine Ahnung haben, was da vor sich gegangen ist? Das wäre fatal - nach innen und außen, in jeder Hinsicht! Aber vielleicht tanzt hier ja auch das Rumpelstilzchen vor unseren Augen! Ach wie gut, dass niemand weiß...

Dabei ist es doch eigentlich nur eine Frage der Zeit - viel Zeit vielleicht -, bis sich das Geheimnis lüftet.

2 Kommentare

  1. Also, dann nochmal zwei Fragen:
    1. warum sollte ein mit Pulitzerpreis ausgezeichneter Investigativreporter sich diese doch sehr detaillierte Geschichte ausdenken und
    2. warum sollte Russland Pipelines sprengen, wenn man durch Zudrehen des Gashahns dasselbe erreichen kann?
    Was soll man von der Äußerung des Autoren halten, dass es niemandem nützt „sicher geglaubte Freunde zu verlieren“? Ist jemand, der uns von günstiger Energie abschneidet indem er unsere milliardenteure Infrastruktur sprengt tatsächlich ein „Freund“? Oder ist er nicht eher ein seit Jahren auf die Pleite zulaufender Gigant, der sich rücksichtlos seinen maroden Haushalt von uns und Europa sanieren lässt während er seine ablaufende Zeit als Weltmacht gleichzeitig um ein paar Jahre verlängern will?

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    • Sehr geehrter Herr Augenberger,

      wenn man genau diese beiden Fragen über zwei bis drei Ecken betrachtet, dann kommt man doch zu dem Ergebnis, dass
      – der Pulitzerpreisträger auf der Suche nach einer vermuteten Sensation zwar auf lauter Indizien, aber auf keinerlei Beweise verweisen kann;
      – der Kreml den Gasfluss bereits abgewürgt hatte, Deutschland erfolgreich anderweitige Gaslieferanten gewinnen konnte und auf gutem Wege war, sich von russischem Gas unabhängig zu machen – mit anderen Worten: die etwa 16 Mrd. Euro teuren Rohre auf dem Grund der Ostsee drohten in kürzester Zeit für ihn nahezu wertlos zu werden!

      Nun zu Freund und Feind. Ein Freund muss nicht immer „lieb“ sein. Aber bevor man durch unliebsame Erkenntnisse einen Freund verlieren könnte, schaut man vielleicht doch besser nicht so genau hin. Ist das womöglich der Grund, warum keine Seite ihre Erkenntnisse öffentlich macht? Denn Erkenntnisse müssen mittlerweile reichlich gesammelt und ausgewertet sein. Und ist demgegenüber nicht eher der Drogendealer mein Feind, weil er mich gezielt und bewusst von billigem Stoff abhängig macht? Der dann aus lauter Frust auch noch alles zerstört, weil seine Rechnung nicht mehr aufgeht?

      Im Übrigen gehört „unsere Infrastruktur“ da unten zum ganz überwiegenden Anteil Gazprom und russischen Tochterfirmen – also nicht „uns“! Und wer bitteschön ließ sich seinen maroden Haushalt von unseren deutschen Gaszahlungen sanieren – bzw. erst seine Streitkräfte und dann noch einen Krieg finanzieren?

      Mit Verlaub – Ihre Kommentierung erscheint mir ansonsten höchst kyrillisch!

      Aber so bevorzugt eben jeder sein eigenes Narrativ.
      There is more to it than meets the eye!
      Axel Stephenson

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