Ihre Flexibilität macht die Marine zum idealen Instrument der deutschen Außenpolitik. Plädoyer für den Einsatz der Schiffe an Orten, wo sie gebraucht werden – weltweit.
Allem Anschein nach dient die Marine aktuell und auf absehbare Zeit vor allem einem Hauptzweck: Der Abschreckung gegenüber Russland an der Nordflanke des Bündnisses. Als erste Reaktion auf Putins Überfall auf die Ukraine ist dieser Impuls verständlich, birgt aber große Risiken – Risiken für die deutsche Außenpolitik und für die Marine selbst. Denn anders als im Kalten Krieg ist die Bundesrepublik heute nicht mehr das kleinere Westdeutschland. Auch haben die traditionellen verbündeten Seemächte längst nicht mehr die Ressourcen und den Willen, den Schutz deutscher Interessen und der regelbasierten internationalen Ordnung uneingeschränkt zu übernehmen.
Allen frommen Wünschen zum Trotz, wird es für die deutsche Flotte schwierig, die ausgelobten Einsatzverpflichtungen im Nordflankenraum mit einer nennenswerten Präsenz jenseits der eigenen Heimatgewässer zu verbinden. Eine ganzjährig eingeplante Einheit bindet rechnerisch – bei guter Instandhaltungsarbeit – den dreifachen Schiffsbestand in Wartung und Ausbildung. Da es aber in der Flotte an Schiffen und Personal fehlt, übersetzen sich zwei permanent an der Nordflanke eingesetzte Korvetten und drei Fregatten in nahezu alles, was die Marine derzeit an größeren hochseetauglichen, weltweit einsetzbaren Kampfschiffen zur Verfügung hat.
So zu planen, als lägen die Aufgaben der Marine – selbst in der Rivalität des Westens mit Russland – ausschließlich in Europa, verkennt sowohl die zentrale Bedeutung von Seeverbindungslinien – militärisch, wie auch wirtschaftlich, als auch den noch viel umfassenderen Beitrag, den Marinen zur Außenpolitik leisten können. Die starke Ausrichtung auf Europa und die Abschreckung einer russischen Aggression in unmittelbarer Nachbarschaft ist vor allem für Heer und Luftwaffe sinnvoll. Da aber diese auf den Kampf an Land fokussierten Teilstreitkräfte zahlenmäßig die strategische Kultur und Tagespolitik der Bundeswehr dominieren, könnte dies auch den gegenwärtigen Kurs der Marine erklären.
Die Welt hört nicht auf, kompliziert zu sein, Krisen aufzuwerfen und die deutsche Außenpolitik vor Herausforderungen zu stellen, nur weil sich Russland grade in unmittelbarer Nachbarschaft als gewalttätiger Aggressor entlarvte. Im Gegenteil, das macht vieles sogar noch schlimmer. Eine der größten Sorgen, für die weltpolitisch Antworten gefunden werden müssen, steht in direkter Wechselwirkung mit Russlands Expansionspolitik – und stellt sie in den möglichen Folgen weit in den Schatten: Der Aufstieg Chinas in Verbindung mit einer möglichen Eskalation der Taiwan-Frage. Um hier hochgefährliche Kosten-Nutzen-Abwägungen in die richtige Richtung zu beeinflussen, braucht es frühzeitig deutliche Signale von möglichst vielen gewichtigen, internationalen Partnern. Wenn es Deutschland nicht einmal gelingt, ein einzelnes größeres Kriegsschiff aus dem strategischen Tunnelblick auf Nord- und Ostsee herauszulösen, wie glaubwürdig erscheint seine Bereitschaft zu schmerzhaften Sanktionen gegenüber einem weit entfernten potenziellen Aggressor und zu wirksamer Unterstützung eines Verteidigers am anderen Ende der Welt?
Bei den deutschen Bürgern rangiert aktuellen Umfragen zufolge die Angst vor einem Angriff Russlands deutlich hinter den Sorgen um wirtschaftliche Stabilität, zunehmende Lebenshaltungskosten und den Klimawandel. Im Unterschied zu Heer und Luftwaffe ist die Marine auch hinsichtlich dieser höher priorisierten Sorgen der Bevölkerung immer unmittelbar gefordert.
Jenseits der klassischen militärischen und diplomatischen Aufgaben sowie des Schutzes von Seewegen – der Gewährleistung einer für die Weltwirtschaft unverzichtbaren Ordnung auf See – darf auch ein weiterer unersetzbarer Beitrag der Marine zu Deutschlands Verantwortung in der Welt nicht vergessen werden: Der Schutz des planetaren Ökosystems hängt untrennbar mit dem Schutz der Meere zusammen. Die Marine ist Deutschlands stärkster Arm der Exekutive auf der hohen See. Sie ist jenseits der deutschen Küstengewässer bei der Durchsetzung internationaler Abkommen zur nachhaltigen gerechten Meeresnutzung unverzichtbar.
Zurück zu „goldenen Zeiten“?
Marine muss sich immer erklären, braucht große Mittel und hat von allem zu wenig: Schiffe, Munition, Ersatzteile und Personal. Es macht aber nichts einfacher und verkennt die gesamtstrategischen Risiken sowie die Situation der Marine, wenn sich mancher in Marineuniform bereits auf dem Weg zurück zu den vermeintlich „goldenen Zeiten“ des Kalten Kriegs wähnt. Ohne Frage, der Marine fiel es in den Jahren seit der Krim-Annexion schwer, internationale Einsatzverpflichtungen mit den intensiven Ausbildungsvorhaben zur Stärkung ihrer glaubwürdigen Abschreckungsfähigkeit zu vereinbaren. Nur ist es ein Trugschluss, dass eines von beiden für Deutschland und die Marine besser oder schlechter sei. Es braucht beides – gerade jetzt. Die Fähigkeit zum Kampf ist der Wesenskern von Seestreitkräften, während ihr wertvoller Beitrag zur Außenpolitik sich bei Weitem nicht in Kriegsszenarien erschöpft.
Hätte die Marine in den letzten Jahrzehnten mit ihren Einsätzen nicht ihren Wert für eine auf globale Verantwortung ausgerichtete deutsche Außenpolitik unter Beweis gestellt, gäbe es sie wahrscheinlich kaum noch. Rein quantitativ hat das Heer kaum mehr ein Fünftel seiner Panzer, die Luftwaffe nur ein Drittel ihrer Flugzeuge, die Marine aber immer noch die Hälfte ihrer Schiffe. Zusätzlich kann gerade die Marine massive qualitative Zuwächse vorweisen. Sie hat heute eine Flotte, deren Einheiten deutlich moderner, größer, leistungsfähiger und global einsatzfähiger sind, als die, mit denen sie die Achtzigerjahre hinter sich ließ. Erkennbar bereits an der Zunahme der Tonnage, ist die Entwicklung gravierend – siehe die zukünftige Fregatte 126 im 10 000-Tonnen-Kreuzerformat. Dies lässt sich gut am Beispiel der U-Boote illustrieren: Die sechs aktuellen vorhandenen, weltweit einsetzbaren U-Boote der Klasse 212A verdrängen zusammen genommen mehr Tonnage als alle 18 der alten für Nord- und Ostsee optimierten Boote der Klasse 206(A).
Auch der relative Anteil am Gesamtpersonal – und damit auch am Charakter und der Kultur der Bundeswehr – hat sich seit 1990 für die Marine erhöht: Von 6,7 Prozent verdoppelte sich dieser auf über 15 Prozent. Da die Marine stärker als das Heer auf höhere Qualifikationen – und damit Dienstgrade – angewiesen ist, steigert sich der Effekt. Außerdem führte die zunehmende Wertschätzung deutscher Politiker– besonders der jeweiligen Bundeskanzler – zu einem überproportional hohen Anteil von Marineangehörigen in Auslandseinsätzen, zeitweilig bis zu 30 Prozent. Außerdem zählt bei vergleichbarer Kommandoebene die Marine weit weniger Köpfe als das Heer (Vergleich Fregatte/Bataillon). Da Kommandoerfahrung im Auslandseinsatz die Karriere fördert, übersetzt sich das Einsatzpensum der Marine in Einfluss, den ihre Vertreter national und international gewinnen können.
Eine weitere Gefahr ergibt sich jenseits des Budgets auch für die Personalsituation der Marine, wenn es misslingt, ihre besondere strategischen Rolle in Politik und Öffentlichkeit herauszustellen und maritimes globales Denken zu fördern. Das schlechte Abschneiden der Marine im Sondervermögen der „Zeitenwende“ lässt sich auch als Zeichen für den Rückfall in kontinentales Denken in der Bundesrepublik deuten. Wenn Deutschlands Sicherheit wieder auf die unmittelbare Nachbarschaft beschränkt gedacht wird, warum sollten dann potenzielle Rekruten aus dem Binnenland der Republik von allen verfügbaren Möglichkeiten ausgerechnet die Marine für ihren persönlichen Beitrag zum Schutz des Landes wählen? Die Marine hat nach eigener Bewertung bereits ausgeschöpft, was an jungen Menschen in den maritim geprägten Küstenregionen Deutschlands erreicht werden kann. Dabei könnte sie, mit Blick auf die globale Rolle Deutschlands, junge Menschen in ihrem Verantwortungsgefühl viel breiter ansprechen – denn das geht über begrenzte Abschreckungsstrategien weit hinaus.
Suche nach Ausgewogenheit
Was sowohl den Umgang mit russischer Aggression als auch mit wesentlich breiter gedachten globalen Herausforderungen angeht, bietet sich in militärischer Hinsicht für Deutschland eine Arbeitsteilung an: Heer und Luftwaffe fokussieren sich auf die Verteidigung des Bündnisses in Europa, die Marine behält und verstärkt den Blick für die Welt. Denn gerade jetzt können es Deutschland, Europa und die NATO nicht gebrauchen, dass schwelende Krisen an anderen, vermeintlich weit entfernten aber kritischen Stellen eskalieren. Gelänge beispielsweise eine Behinderung oder Unterbrechung wichtiger Anteile europäischer Energielieferungen auf dem Seewege – sei es im Golf von Guinea, am Horn von Afrika oder der Straße von Hormus – dann wäre Europas Durchhaltefähigkeit geschwächt und Russlands Verhandlungsposition gestärkt.
Der Sinn einer solchen Arbeitsteilung ergibt sich – zusätzlich zu schneller globaler Beweglichkeit und vergleichsweise geringen finanziellen und politischen Kosten – aus der großen Flexibilität der Marine als Instrument der Außenpolitik. Man kann ohne diplomatische Hürden auf hoher See über zwei Drittel der Oberfläche unserer Erde erreichen, während eine Fregatte im Indischen Ozean nur wenig mehr Haushaltsmittel bindet als in der Nordsee. Vor allem aber kann die gleiche Fregatte bei gleicher Ausrüstung und Ausbildung innerhalb kürzester Zeit zwischen verschiedenen Rollen wechseln. Sie kann einen potenziellen Aggressor zu Wohlverhalten anregen, Menschen und Interessen schützen, Werte und Völkerrecht notfalls auch durchsetzen – gegenüber Potentaten, Warlords und Piraten. Sie kann aber auch bei Naturkatastrophen rasch humanitäre Hilfe leisten, einen große Anzahl Menschen evakuieren oder mit Hilfsgütern versorgen. Und im Gegensatz zu Panzern oder Kampfflugzeugen kann man auf Kriegsschiffen auch diplomatische Empfänge geben. Seestreitkräfte sind aufgrund ihrer Vielseitigkeit – je nach bei Bedarf gut sichtbar oder hinter dem Horizont verborgen – Zeichen von Präsenz, Interesse und Handlungsfähigkeit eines Staates.
Für Kriegsschiffe zählt nicht nur ihre konkrete Aufgabe in einer Mission, sondern auch die Bedeutung ihrer Position relativ zu geografischen Regionen, in denen deutsche Außenpolitik von ihrer Signalwirkung und Handlungsfähigkeit profitieren kann. Ein Schiff am Horn von Afrika könnte selbst beim gegenwärtig geringen Piraterieaufkommen Nutzen bringen. Es würde durch seine bloße Präsenz Angriffe auf Handelsschiffe noch unwahrscheinlicher machen, könnte gleichzeitig sehr rasch auf eine Eskalation in der Straße von Hormus reagieren oder schneller humanitäre Hilfe im Indopazifik leisten.
Um sich der Verantwortung in der Welt zu stellen, auf internationale Krisen und Bedrohungen europäischer Seeversorgungslinien zu reagieren, kann Europa auf Seemacht nicht verzichten – und ohne Deutschland ist europäische Seemacht undenkbar. Heute sind weder Frankreich noch Großbritannien in der Lage, große Marineverbände ohne Beteiligung ihrer Bündnispartner aufzustellen. Wenn die Deutsche Marine in ihren Heimatgewässern bleibt, fehlt sie an anderer Stelle. Die leicht, weltweit flexibel, kostengünstig und risikoarm einsetzbare Marine bietet sich gerade jetzt als wertvolles Instrument einer deutschen Außenpolitik an, die ihre Augen trotz des Ukrainekriegs nicht vor der Welt verschließen darf.
Kapitänleutnant Dr. Moritz Brake ist Senior Fellow am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) der Uni Bonn und Mitglied des Deutschen Maritimen Instituts.
Moritz Brake
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