Lediglich eine 180 Kilometer breite Meerenge trennt Taiwan von der Volksrepublik China. Das demokratische Land fühlt sich zunehmend bedroht und modernisiert seine Seestreitkräfte.
Amerikanische Nachrichtendienste gehen davon aus, dass Peking noch vor Ende des laufenden Jahrzehnts versuchen könnte, sich Taiwan gewaltsam einzuverleiben. Der Vergleich David gegen Goliath drängt sich auf. Im Unterschied zur biblischen Geschichte ist der Riese allerdings nicht nur stark, sondern zunehmend auch wendig. Angesichts der laufenden Modernisierung der Volksbefreiungsmarine suchen Taiwans Seestreitkräfte Wege, trotz beschränkter Ressourcen die eigene Schlagkraft zu steigern.
Die bisherige Ausrichtung der Streitkräftestruktur und der Einsatzdoktrin ist weitgehend an die US-Streitkräfte angelehnt. Die chinesischen Streitkräfte sollten demnach innerhalb der gesamten Taiwanstraße auf größerer Distanz bekämpft und durch Zermürbung zurückgeschlagen werden. Dies ist allerdings für die aktuelle Situation Taiwans nicht mehr optimal. Die durch die chinesische Aufrüstung und Modernisierung geprägte Bedrohungslage erfordert wendige, überlebensfähige Einsatzsysteme sowie operative Konzepte, die für den asymmetrischen Kampf auf kurzer Distanz ausgerichtet sind.
Die neue Strategie ist in zwei Verteidigungsphasen unterteilt. Die erste Kriegsphase ist primär die Domäne der Marine, unterstützt durch weitreichende landgestützte Sensoren und Raketensysteme. Diese Litoralphase umfasst Einsätze in bis zu 100 Kilometer Entfernung zur Hauptinsel Taiwan. Innerhalb dieser operativen Zone befindet sich auch das zu Taiwan gehörende, aus rund 90 Inseln bestehende Archipel Penghu (auch Pescadores). Es gilt, feindliche Kräfte so weit wie möglich im Vorfeld des taiwanesischen Gebiets abzufangen und zu zerstören. Wesentliche Elemente dieser Phase sind der Einsatz der mit Seezielflugkörpern ausgestatteten größeren taiwanesischen Kriegsschiffe sowie das Verlegen von Seeminen. Gerade die Verminung weiter Strecken der nur 180 Kilometer breiten Taiwanstraße würde die Optionen Pekings erheblich einschränken. Chinesische Kräfte müssten entweder zeitaufwendige Minenaufklärung und -räumung betreiben (und die beteiligten Kräfte einer gezielten Dezimierung aussetzen) oder die amphibischen Angriffswellen auf wenige noch offen gelassene Gassen beschränken, wodurch Taiwan seine Abwehrkräfte konzentrieren könnte.
Realistischerweise dürfte die erste Phase der ODC-Strategie den Vormarsch eines numerisch weit überlegenen Gegners nur verzögern. Die zweite Verteidigungsphase wird eingeleitet, sobald chinesische Landungskräfte sich auf circa 40 Kilometer Distanz zu Taiwan nähern. Dann fällt den Seeminen eine noch größere Bedeutung zu. Sie sollen in großer Zahl vor den mutmaßlichen Landungsstränden ausgelegt werden. Die dort chinesischen Landungskräfte sollen anschließend durch eine große Anzahl schneller Raketenboote sowie landgestützter mobiler Seezielflugkörper und Artillerie dezimiert werden. Im Optimalfall werden die verbleibenden Landungskräfte ausreichend geschwächt, sodass taiwanesische Heerestruppen sie hinhalten oder besiegen können.
Taiwans Streitkräfte werden derzeit mit neuen Waffensystemen ausgestattet, um der ODC-Doktrin gerecht zu werden. Taiwans Marine wird international durch das englischsprachige Kürzel ROCN (Republic of China Navy) bezeichnet, die Kriegsschiffe führen die Kennung ROCS (Republic of China Ship). Die Aufgaben sind notgedrungen auf die umliegenden Gewässer einschließlich der Taiwanstraße beschränkt. Sie umfassen den Schutz der Hauptinsel sowie der Taipei unterstehenden kleineren Inseln und der umliegenden maritimen Handelsstraßen, die die Lebensader Taiwans darstellen.
Die ROCN hat eine Personalstärke von rund 40 000 Planstellen. Es bestehen vier größere Flottenstützpunkte, verteilt über den Norden und den Süden der Hauptinsel Taiwan sowie auf der Inselkette Penghu. Hinzu kommen sechs kleinere Stützpunkte für Schnell- und Patrouillenboote.
Dem Territorialschutzauftrag entsprechend, besteht die ROCN primär aus kleineren Kriegsschiffen. Das Flottenkommando verfügt derzeit über rund 100 schwimmende Einheiten. Lange Zeit war Taiwan auf Importe aus den USA und, in geringerem Umfang, aus Europa angewiesen, doch wird in den letzten beiden Jahrzehnten der Schwerpunkt auf Entwicklung und Herstellung einheimischer Einsatzsysteme gelegt. Die führenden Einrichtungen für Entwicklung beziehungsweise Produktion sind die staatseigene Firma NCSIST (National Chung-Shan Institute of Science and Technology) sowie die private Schiffbaufirma CSBC (Taiwan International Shipbuilding Corporation). Im Jahr 2016 gab das Verteidigungsministerium ein auf 22 Jahre (2018 bis 2040) ausgerichtetes Flottenbauprogramm bekannt. Es umfasst zwölf verschiedene, möglichst im Inland durchzuführende Entwicklungs- und Beschaffungsprojekte. Prioritäten liegen bei den schnellen Minenkampfschiffen sowie den schnellen Raketenbooten der Tuo-Jiang-Klasse, die für das ODC-Konzept besonders wichtig sind.
Eigene Waffenentwicklung
Im Inland entwickelte Seezielflugkörper und andere Präzisionswaffen versetzen sowohl größere Kampfschiffe wie auch Schnellboote in die Lage, chinesische Kräfte innerhalb der taiwanesischen Küstengewässer direkt anzugreifen. Sie sind – vor allem im Vergleich zu importierten Bordwaffen – vergleichsweise erschwinglich und können in großer Anzahl beschafft werden.
Die im Inland durch NCSIST entwickelten Seezielflugkörper Hsiung Feng 2 und 3 (HF 2/ HF 3) können per Schiff oder per Lkw eingesetzt werden und spielen eine wesentliche Rolle im Rahmen des ODC-Konzepts. Fast alle Kriegsschiffe und Schnellboote der ROCN setzen die HF 2 und HF 3 als primäre Seezielwaffen ein.
Die Variante HF 2 wurde 1990 eingeführt und 2007 durch die Ausführung Block II ersetzt. Der über den Wellen fliegende Flugkörper (sea skimmer) fliegt mit Mach 0,8 im Unterschallbereich und ist schwer durch den Gegner zu orten. Das Zielsuchsystem setzt sowohl Radar- als auch Infrarotsensoren ein. Die Reichweite wurde auf rund 250 Kilometer erweitert.
Die Variante HF 3 fliegt durch Einsatz eines Staustrahtriebwerks im Überschallbereich und ist mit einem leistungsgeseigerten elektronischen Kampfsystem ausgestattet, um gegnerische Abwehrsysteme zu überwinden. Die Reichweite wird durch unabhängige Experten auf 400 Kilometer geschätzt. Der 500-Pfund-Sprengkopf ist darauf ausgerichtet, im Schiffsinneren zu detonieren und dabei die Hauptsprengkraft nach unten zu richten, um das angegriffene Objekt zu versenken. Die HF 3 gilt als fortgeschrittenste Seezielwaffe der ROCN, und soll vor allem gegen hochwertige Ziele – Flugzeugträger, Zerstörer, amphibische Kriegsschiffe – eingesetzt werden.
Auch das Flugabwehrsystem Tien Chien 2, eine für maritime Zwecke ausgerichtete Fortentwicklung einer taiwanesischen Luft-Luft-Rakete, wird auf den meisten Schiffs- und -bootsklassen der ROCN eingesetzt. Die Variante TC-2 besitzt, je nach Einsatzszenario, eine Reichweite zwischen 15 und 30 Kilometern.
Eine begrenzte Anzahl Großkampfschiffe bleibt erforderlich, um in Friedens- sowie Krisenzeiten in den Territorialgewässern Flagge zu zeigen. Diese mit vergleichsweise vielfältiger Bewaffnung und großen Magazinen versehenen Schiffe bilden auch eine erste Verteidigungslinie im Falle einer chinesischen Aggression. Allerdings stellen sie aufgrund ihrer Größe ein leichtes Ziel für Schwarmangriffe durch see-, luft- oder landgestützte Seezielflugkörper dar.
Die größten Einheiten im Inventar sind derzeit die vier Zerstörer der Kee-Lung-Klasse. Die rund 40 Jahre alten Schiffe der amerikanischen Kidd-Klasse sind mit acht HF 3 sowie mit Flugabwehrraketen des Typs SM-2 bewaffnet.
Hinzu kommen 22 Fregatten verschiedener amerikanischer und französischer Entwürfe. Der größte Teil wurde in den Neunzigerjahren unter Lizenz in Taiwan gebaut und mit Waffen und Elektronik aus eigener Produktion ausgestattet; lediglich die Zerstörer sowie sechs ältere Fregatten stehen zur Ausmusterung an.
Noch 2016 hoffte Taipei, die Kee-Lung-Klasse durch sechs bis acht selbstentwickelte schwere Flugabwehrfregatten abzulösen. Im November 2022 gab die ROCN-Führung bekannt, dass anstelle des geplanten Prototyps einer 4500 Tonnen großen Lenkwaffenfregatte zwei leichte Fregatten mit jeweils 2000 Tonnen Verdrängung gebaut werden sollen. Längerfristig sollen nun bis 2027 acht leichte Fregatten beschafft werden. Zwei Gründe werden für die Änderung angeführt. Erstens wären die Kosten der beiden kleineren Schiffe niedriger als die des größeren Schiffs. Zweitens setzt Taipei jetzt die Priorität auf die Präsenzfähigkeit der Fregatten. Die friedenszeitliche Hauptaufgabe der größeren taiwanischen Kriegsschiffe liegt in der Überwachung chinesischer Einheiten in der östlichen Taiwanstraße. Kleinere Schiffe mit entsprechend reduziertem Personalaufwand und geringerer Betriebskosten sind angesichts der umfangreichen chinesischen Flotte besser für diese Aufgabe geeignet.
Schnell und flexibel
Kleine, schnelle und wendige Minenkampfschiffe sollen im Vorfeld anrückender chinesischer Kräfte eine große Anzahl Seeminen in der Taiwanstraße sowie in den Küstengewässern vor potenziellen Landungszonen aussetzen. Der Bau der Min-Jiang-Klasse begann 2019. Die 37 Meter langen Schiffe erreichen 14 Knoten Fahrt und verdrängen 350 Tonnen. Sie sind mit einem automatisierten System zur schnellen Minenverlegung ausgestattet und stellen eine erhebliche Leistungssteigerung zu den bis dahin eingesetzten sieben Minenlegern der ROCN dar. Die vierte und vorläufig letzte Einheit wurde 2021 in Dienst gestellt.
Kleinkampfverbände haben einen wesentlichen Stellenwert im Rahmen der maritimen Verteidigung Taiwans. Mit Stealtheigenschaften ausgestattete Schnellboote sollen vor allem in den Archipelgewässern operieren, um Überraschungsangriffe gegen chinesische Schiffe durchzuführen. Die Kleinkampfverbände können von den mehr als 200 Fischereihäfen Taiwans und den kleineren Inseln aus operieren. Diese Kräfteverteilung soll die Gefahr einer vorbeugenden chinesischen Neutralisierung minimeren.
Im Rahmen der Neubeschaffung sind vor allem die zwölf neuen Raketenkorvetten der Tuo-Jiang-Klasse von Bedeutung. Jeder 60 Meter lange, 685 Tonnen schwere Katamaran führt – mit Ausnahme der schwerer bewaffneten ersten Einheit – mittschiffs zwölf Siung-Feng-Seezielflugkörper, 12 bis 16 Flugabwehrraketen des Typs Tien Chien 2, U-Jagd-Torpedos sowie auf dem Vorderdeck ein 76-Millimeter-Geschütz. Auf dem Achterdeck könnten im Bedarfsfall Schienen zum Verlegen von Seeminen installiert werden. Alternativ kann ein unbemannter Hubschrauber geführt werden; für ein bemanntes Flugzeug ist das Deck jedoch zu klein.
Die neuen Schiffe erreichen 45 Knoten Fahrt und sollen den Gegner mit möglichst kurzer Vorwarnzeit angreifen. Rumpf und Aufbauten sind darauf ausgerichtet, die Radar- und Wärmesignatur zu minimieren. Das in Taiwan entwickelte Schiff wird folglich auch als Stealthkorvette eingestuft. Die Indienststellung der ersten Einheit erfolgte 2021. Die schlagkräftigen Korvetten sollen auch die größten gegnerischen Kriegsschiffe angreifen können; taiwanesische Medien bezeichnen sie bereits als „Flugzeugträgerkiller“. Sie ergänzen 42 Raketenschnellboote der Klassen Ching Chiang (Einführung 1994) und Kuang Hua VI (Einführung 2003), die 25 beziehungsweise 33 Knoten Fahrt erreichen und jeweils vier Seezielflugkörper führen.
Die Anping Klasse der Küstenwache ist von der Tuo Jiang Klasse abgeleitet. Die als OPV eingestufte Klasse kann im Kriegsfall auch Seezielflugkörper führen und soll in Koordination mit den Korvetten der ROCN eingesetzt werden. Bislang wurden fünf von zwölf geplanten Einheiten in Dienst gestellt.
Kontroverse Programme
Einige Schiffbauprogramme der ROCN lassen sich allerdings schwer in das ODC-Konzept einordnen. Hierzu gehört das 2018 eingeleitete Programm zur Entwicklung eines amphibischen Landungsschiffs. Die Firma CSBC erhielt 2018 den Zuschlag zum Bau des Typschiffs einer aus vier Einheiten bestehenden Klasse. Zur Bordbewaffnung gehören ein 76-Millimeter-Geschütz sowie Flugabwehrraketen vom Typ Tien Chien 2.
Das 10 600 Tonnen verdrängende amphibische Typschiff Yu Shan wurde im September 2022 der Marine übergeben. Es soll primär zur Versorgung der direkt vor der Festlandküste liegenden Inseln der Republik eingesetzt werden. Ausgestattet ist das Schiff mit einem Flutdeck und führt sowohl Landungsboote wie auch Hubschrauber. Zudem kann ein geschlossenes Bataillon der Marineinfanterie eingeschifft werden. Es ist größer und wesentlich leistungsfähiger als die sieben aus Beständen der US Navy stammenden Landungsschiffe, die teilweise bereits seit Jahrzehnten im Dienst der ROCN stehen.
Westliche Beobachter vergleichen den Typ mit der San-Antonio-Klasse der US Navy. Eingesetzt werden könnte ein solches Schiff im Kriegsfall erst nach dem Zurückschlagen einer chinesischen Invasion der Hauptinsel, um kleinere Inseln in der Taiwanstraße zurückzuerobern. Ob sich die Investition aufgrund der vielen teuren Waffensysteme rentiert ist eher fraglich.
Auch der Erwerb von bis zu acht in Taiwan zu bauenden Indigenous Defense Submarines (IDS) ist in der RC umstritten. Die Taiwanstraße hat eine maximale Tiefe von 150 Metern und ist durch wesentlich seichtere Abschnitte gekennzeichnet. Diese geografischen Eigenheiten begünstigen die U-Jagd und schränken die Einsatzmöglichkeiten offensiver Unterseeboote ein. Der Wert dieser teuren Einheiten im Rahmen des ODC-Plans ist eher fragwürdig. Staatspräsidentin Tsai Ing-wen betonte allerdings 2019 anlässlich des Baubeginns, dass die U-Boote einen wesentlichen Abschreckungsfaktor darstellen würden. Sie könnten eine feindliche Blockade Taiwans überwinden und vor allem in der südlichen Taiwanstraße eine ernsthafte Bedrohung gegnerischer Kriegsschiffe darstellen, erklärte Tsai.
Die Boote werden gemeinsam von NCSIST und CNBC entwickelt. Derzeit befindet sich das Typschiff im Bau. Die Boote haben 2500 Tonnen Verdrängung, weitere technische Details bleiben vertraulich. Veröffentlichte Skizzen der neuen U-Boote weisen Elemente der niederländischen Zwaardvis-Klasse auf. Diese bilden auch die Grundlage der beiden aktiven Einheiten der Hai-Lung-Klasse der ROCN, allerdings mit einem moderneren Turm und einem x-förmigen Ruder. Das Typschiff soll 2025 ausgeliefert werden.
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