Putin geht es um die Wiederherstellung alter Größe am Maßstab der Sowjetunion

Putin geht es um die Wiederherstellung alter Größe am Maßstab der Sowjetunion

Russland – die große Krise

Putin geht es um die Wiederherstellung alter Größe am Maßstab der Sowjetunion

Selten haben Bedrohungen von außen die Öffentlichkeit in Deutschland so aufgerüttelt wie in den vergangenen Wochen. Aus dem Kreis meiner alten Marine- und Crewkameraden kam der Wunsch an mich, dazu Stellung zu beziehen. Drei Versionen musste ich schreiben, und ich hoffe, dass die nun vorliegende die Zeit zwischen Redaktionsschluss und dem Erscheinen der Aprilausgabe heil übersteht.

Bei der letzten großen Zeitenwende in den Jahren 1989/90 sagte man, „das Wort veraltet mir im Munde“. Diesmal verläuft der Umbruch vielleicht noch schneller und mindestens ebenso radikal. Was war so überraschend an den Ereignissen des Winters 2021/22? Hätte man nicht nach der russischen Annexion der Krim Anfang 2014 wissen können, wes Geistes Kind Wladimir Putin ist? Hätte man da nicht schon umsteuern können, ja müssen? Zu lautlos, zu unblutig war die seinerzeitige Aufkündigung der europäischen Friedensordnung von 1990. Die ukrainischen Streitkräfte leisteten keinen nennenswerten Widerstand, und die ganze Nation wirkte eher gelähmt als kämpferisch. Zugleich verstand es Russland geschickt,  seine Sicht der Dinge als weitgehend geglaubte Narrative zu etablieren.

Ist Deutschland auch nicht so direkt betroffen wie die kriegsbeteiligten Staaten Ukraine und Russland, so gab es hierzulande doch eine sicherheitspolitische Revolution. In wenigen Minuten wischte Bundeskanzler Olaf Scholz alle Gewissheiten der Außen und Verteidigungspolitik von drei Jahrzehnten vom Tisch. Was für die einen eine Erlösung nach vielen bleiernen Jahren war, war für die anderen die Zerstörung ihrer heilen Welt. Verletzte Gefühle, gebrochene Versprechen und die angebliche Bedrohung durch die aggressive Ost-Erweiterung der NATO wurden im Westen gern als Rechtfertigungsgründe akzeptiert. Man nahm sie als russische Sicht hin, die man verstehen müsse. Damit entledigte man sich zugleich auf bequeme Art des Zwangs, aus der neuen Lage unpopuläre Konsequenzen zu ziehen.

Werfen wir einen Blick auf Russlands Mythen. Sie alle sind in den vergangenen Wochen von Experten aus Politik, Diplomatie und Geschichtsforschung gründlich durchleuchtet worden. Ich stehe also auf recht festem Boden, wenn ich mich bemühe, die wichtigsten von ihnen auf dieser Grundlage zu widerlegen oder zu enttarnen.

Da ist zuerst die Behauptung, die NATO habe Russland 1990 versprochen, sich nicht nach Osten auszudehnen. Richtig ist, dass es in den diversen Konsultationen und Verhandlungen im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung vielerlei Meinungen und Äußerungen von Politikern und Diplomaten gegeben hat, die einen solchen Verzicht einschlossen. Wichtig ist allerdings, was am Ende auf dem Papier steht, denn keine der genannten Persönlichkeiten hatte die Vollmacht, für sein Land oder gar das gesamte Bündnis derartige Verpflichtungen einzugehen. Im Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 ist nur vereinbart, dass keine nichtdeutschen NATO-Kräfte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert werden. In der NATO-Russland-Grundakte von 1997 erhob Russland keine Einwände dagegen, dass Staaten im Osten der NATO beitreten. Die NATO verpflichtete sich, keine Nuklearwaffen auf das Gebiet der Beitrittsländer zu verlegen und dort auch keine substanziellen Kampftruppen aus anderen Staaten dauerhaft zu stationieren. Zugleich verpflichteten sich die Unterzeichner einschließlich Russlands zum Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit. Insofern hat Russland mit seinen Operationen gegen ukrainisches Gebiet nicht nur Versprechungen, sondern schriftliche Zusagen gebrochen.

Im Übrigen führt bereits der Begriff NATO-Osterweiterung in die Irre. Die NATO ist nirgends einmarschiert, sie hat keine Gebiete besetzt und dort Truppen stationiert. Vielmehr sind viele Staaten im östlichen Europa der NATO beigetreten, sobald ihnen das möglich wurde. Angesichts jahrzehntelanger Erfahrung mit sowjetischer Herrschaft mussten sie dazu weder gezwungen noch überredet werden. Wie richtig ihr Schritt war, bestätigt sich nun gerade. Der Beitritt von mittel- und osteuropäischen Staaten ist also für ein militärisch starkes Russland keine Bedrohung. Die einzige Gefahr, die vom Westen ausgeht, sind nicht dessen Streitkräfte, sondern für das Herrschaftssystem Putins die Ideen der westlichen Gesellschaftsordnung.

Was mich mit Blick auf unsere eigene jüngere Geschichte besonders geärgert hat, ist die Behauptung, die Krim sei für die Ukraine verloren. Viele in der alten Bundesrepublik waren bereit, die Wiedervereinigung aufzugeben und sich der DDR-Forderung nach „Anerkennung der Realitäten“ anzuschließen. Verlangten die Machtverhältnisse im Kalten Krieg das nicht? Wäre die Bundesregierung dem gefolgt, wäre die Wende 1989 ganz anders verlaufen. Wir durften lernen, dass keine Machtkonstellation ewig besteht. Wer also, gerade als Deutscher, die Krim vor einem Friedensvertrag aufgibt, ist schlicht geschichtsvergessen.

Und schließlich heißt es immer wieder, man müsse Russland mehr Respekt zollen, ihm erstmal entgegenkommen und einige Konzessionen machen. Zudem müsse der Westen sich fragen, was er denn alles falsch gemacht habe. Die letzte Frage halte ich durchaus für berechtigt. Sicherlich haben die USA nach 1990 versäumt, der Rolle Russlands in der Weltgemeinschaft genügend Aufmerksamkeit zu widmen und tragfähige Vorstellungen dazu zu formulieren. Deutschland hat die alte Erfahrung vergessen, dass Russland Stärke respektiert, Schwäche aber verachtet. Willy Brandt hatte verstanden, dass man mit Moskau nur aus einer Position der Stärke erfolgreich verhandeln kann. Zu Beginn seiner Ostpolitik setzte er ein Signal, indem er die Bundeswehr um etwa 35.000 Mann aufstockte. Damit demonstrierte er, dass die Bundesrepublik die Hauptverantwortung für die konventionelle Verteidigung Mitteleuropas zu tragen bereit ist. Nach 1990 wurde diese Rolle als obsolet betrachtet. Die Entscheidung von 2011, die Anzahl der Kampfpanzer von ehemals 3.500 auf 220 zu reduzieren, mag für manchen Verteidigungsbürokraten die administrative Umsetzung eines neuen Fähigkeitsprofils gewesen sein. Politisch war sie ein verheerendes Signal: Deutschland meldet sich als Träger der konventionellen Verteidigung Europas ab. Diese konventionelle Schwäche des Westens bedeutete für den Kreml: Europa mag viele Stärken haben, physisch wehren kann es sich nicht. Allein das aber hätte Russland respektiert. Der Fehler des Westens bestand also nicht darin, gegenüber Russland zu wenig Respekt zu zeigen, sondern sich selber nicht genug Respekt zu verschaffen.

In den Tagen und Wochen vor dem Überfall am 24. Februar haben die USA Stück für Stück jedes russische Narrativ entlarvt und widerlegt, die wirklichen Absichten schonungslos offengelegt und Putin jede Legitimierung aus der Hand geschlagen. Weil ihm die Zeit weglief, hat er dann eben ohne den Versuch einer Rechtfertigung brutal zugeschlagen.

RUS Panzer bei Manäöver 2

RUS Panzer bei Manöver 2

Das hat gezeigt, dass die von Russland gepflegten und von vielen im Westen begierig aufgegriffenen Erzählungen falsch waren. Es ging Putin nie um gebrochene Versprechungen oder empfundene Bedrohungen, sondern von Anfang an um die Wiederherstellung alter Größe am Maßstab der Sowjetunion.

Auch Putin hat eine alte Erfahrung missachtet und die Schwäche des Westens falsch eingeschätzt. Der nämlich fand in existenziellen Krisen stets zusammen und war bereit, für seine Freiheit einzustehen, im Zweiten Weltkrieg, im Kalten Krieg und heute wieder. Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Wenn es keine Einigung hinter den Kulissen gibt, steht uns noch ein langer, blutiger Partisanenkampf bevor. Nach dem Zweiten Weltkrieg brauchte die Sowjetunion bis in die 1950er-Jahre, um den letzten Widerstand in der Ukraine zu brechen. Diesmal kann es noch länger dauern, weil es den Blick der Welt und Unterstützung von außen gibt. Ob das Regime Putin sich so lange hält, darf bezweifelt werden. Und nach ihm werden die Karten neu gemischt.

Wie zu Zeiten Willy Brandts wird der Westen jetzt Stärke zeigen müssen und darf keine Vorleistungen erbringen, die ihm als Schwäche ausgelegt werden. Das setzt zunächst einmal die Stärkung der konventionellen Verteidigung Europas voraus, um sich eine glaubhafte Verhandlungsposition zu verschaffen. Ein Lichtblick ist, dass die für die Sicherheit Europas so maßgebliche deutsche Politik nach langem Zögern die richtigen Lehren aus der jetzigen Lage gezogen hat. Uns bleibt zu hoffen, dass das Blutvergießen bald dauerhaft beendet und durch einen stabilen Frieden abgelöst werden kann.

 

 

5 Kommentare

  1. Gemach, gemach Kameraden!

    Ich halte den vorliegenden Text des Herrn Schneider für eine sehr gelungene Auseinandersetzung mit den Ursachen und Auswirkungen der derzeitigen Lage.
    Auch wenn es wütend macht, die Analysen sind nicht zu beanstanden.
    Zu beanstanden allerdings ist manch vorschnelle Empörung.
    Wir alle wünschen uns den Frieden, richtig?
    Also könnten wir bei uns beginnen.
    Lesen, denken, wirken lassen!

    Liebe Grüße & ahoi!

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  2. Der Kommentator geht hier von einer Niederlage der Ukraine aus.
    Mit der militärischen Unterstützung Deutschlands in den letzten 8 Jahren wie aktuell ist dieser Schluss richtig.
    Andere Länder wie die USA, Großbritannien und einige osteuropäischen Ländern klotzen hier und haben schon einen ersten Achtungserfolg erreicht.
    Die Luftüberlegenheit der Russen mit der Luftwaffe wurde über der Ukraine gebrochen.
    Der Angriff auf Kiew erfolgt nur noch über Raketen.
    Das primäre Ziel ist die Eroberung der Ostukraine, in denen die stärksten Truppen der Ukraine stehen.
    Die Moskau wurde durch ein neues ukrainisches Neptunsystem versenkt und damit ist die russische Schwarzmeerflotte enthauptet und einiger Fähigkeiten beraubt. Marine Operationen vor Odessa sind damit schon erschwert.
    Britische Antischiffsraketen werden die Herrschaft der Russen auf See hier auch erheblich einschränken. Weitere Verluste werden die Russen durch Abstand halten vermeiden wollen.

    Mit weiteren Waffenlieferungen wie zum Beispiel auch moderner Panzerhaubitze 2000 mit italienischer Volcano-Munition mit 80 km Reichweite würde die Ukraine den russischen Angriffen stand halten können und die russische Artillerie und die gepanzernden Verbände so stark unter Druck setzen können, dass sie sich sogar zurückziehen müssen.
    Bediener westlicher Systeme können in der internationalen Division der Ukraine vermutet werden oder würden sich als Veteranen freiwillig melden.
    Für 10 Panzerhaubitzen 2000 genügen 50 erfahrene Soldaten, die im Westen an solchen ausgebildet wurden.
    Wenn Westeuropa hier nicht ein paar % seiner Systeme entbehren kann, dann sind dies nicht militärische Gründe. Dann bleibt die Fehleinschätzung, dass wieder ein fauler Kompromiss wie in Minsk möglich ist mit Putin. Dem krebskranken Putin läuft aber die Zeit davon. Er will die ganze Ukraine erobern zum posthumen ewigen Ruhm in einer historischen Mission für Russland.

    Die Müzenichs in der SPD haben die Aufrüstung der Bundeswehr durch Brandt vergessen.
    Da ist nur Entspannungspolitik in Erinnerung. Nur der Starke wird im Kreml Ernst genommen.

    Der Bundespräsident hat auch seine Rolle als Kanzleramtschef und Außenminister bei Northstream 1 vergessen, die Russland die Gaswaffe in die Hand gab und der Ukraine und Polen sie aus der Hand nahm. Ab 2011 hat Russland hier die Ukraine, Belarus und Polen umgangen.
    Belarus ist auch Vasall mangels dieser Pipeline-Einnahmen. Polen musste teuer umstellen auf andere Erdgasquellen ohne Pipeline-Einnahmen. Und die Ukraine ist nun 2014 im Krieg mit Russland.

    Solange ein Bundespräsident Steinmeier mit einem solchen Scherbenhaufen mit 1 Billion Euro Schaden und mehr, Zehntausenden Toten und Millionen Flüchtlingen durch die Lande ziehen darf, als guter Mann, nicht zurücktreten will und muss, werden wir weiter eine zaudernde Bundesregierung erleben.

    Dieser Mann hat der NATO mit Manövern in Polen Säbelrasseln vorgeworfen gegenüber Russland als deutscher Außenminister im Jahr 2016.

    Die SPD hat in der Spitze wie Mitgliedschaft immer noch nicht ihren Scherbenhaufen realisiert.
    Deutschland schwach gemacht, Russlands Kriegskasse und strategische Position gestärkt mit North Stream 1. North Stream 2 wäre dann das I-Tüpfelchen geworden.
    Die CSDU ist gerade dabei den Hauptverantwortlichen Merkel-Mehltau (ab 2005) zu entsorgen mit dem Vorteil, dass hier viele Mitverantwortliche in den Ruhestand abgetreten sind.

    Das North Stream-Quartett Gasprom-Schröder, Gasanlandestation-Merkel, Atomausstieg-Trittin und Kanzleramtchef und Außenminister Steinmeier hat immer noch nicht ihre Schuld und Versagen in der Tiefe der strategischen, spieltheoretischen Fehleinschätzung Russlands eingesehen.

    Aus North Stream hätte müssen der Zugang der Ukraine zur NATO als Gegensicherung erfolgen müssen. Das hat Merkel 2008 abgelehnt.

    Die Sicherheit Deutschlands, Europas und natürlich der Ukraine wurde durch diese naive Politik in ihren Grundfesten erschüttert.
    Der in Zersetzung und Erkennung von Schwäche bestens ausgebildete KGB-Mann Putin hat sich diese Chance natürlich nicht entgehen lassen, um Russland zu neuer Größe aus seiner Sicht zu formen.
    Er wird auch nicht locker lassen, wenn der Westen hier nicht Stärke real zeigt.

    In den politischen wie militärischen Apparaten versuchen russische Agenten zusätzlich hier Sand ins Getriebe der Gegenreaktionen zu streuen. Mit einigen tausend Agenten und besten Freunden Russlands auch an wichtigen Schalthebeln in Ministerien und Vorständen ist jetzt mit noch mehr Aktion im Hintergrund zu rechnen.

    Fazit: da müssen noch einige Putin-Missversteher und Träumer politisch von den Greueltaten der Russen in der Ukraine marginalisiert werden, bevor Deutschland hier nicht nur sich von russischer Energie löst, sondern auch militärisch die Ukraine wirkungsvoll unterstützt.

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  3. Moin,

    wer die Krim mit der „Wiedervereinigung“ Deutschlands vergleicht (de facto war es ein Anschluß, denn die Gebiete der DDR unterwarfen sich dem bundesdeutschen Rechtssystem ohne die Ausarbeitung einer neuen Verfassung), der braucht über eine Geschichtsvergessenheit hier nicht zu philosophieren.

    Die ukrainische Sowjetrepublik hat im Jahre 1954 durch den Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Nikita Chruschtschow (von der Nationalität her ein Ukrainer) zugeschlagen bekommen; zuvor hat das russische Imperium die Krim seinerzeit von den Türken erobert…

    Die Russische Föderation wird auch nie wieder auf das Gerede von westlichen Politikern etwas geben; nicht umsonst wurde Anfang 2022 von den USA die schriftliche Stellungnahme auf die russischen Forderungen bezüglich der russischen Sicherheitsinteressen eingefordert. Auf die Worte westlicher Politiker wird nichts mehr gegeben. Worte sind… Schall und Rauch.

    Stabsbootsmann a. D. Axel Engel

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    • „Die Gebiete der DDR unterwarfen sich dem bundesdeutschen Rechtssystem“ Die Wortwahl erscheint mir ein wenig verfehlt. Niemand brauchte sich zu unterwerfen.

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  4. Und wie schätzen sie die Zeitenwende ein?
    Ich hab das Gefühl, sie bezieht sich nur auf ein wenig Selbstschutz aber sie beinhaltet nicht das Anerkennen, dass Russland sich nun offen als strategischer Gegner geoutet hat und wir nun aktiv gegenhalten müssen.

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