Mit Blick auf China soll die amerikanische Marine zusätzliche Schiffe erhalten. Dabei stellt sich auch jenseits des Atlantiks die Frage nach den Kapazitäten der Schiffbauindustrie.
Die US Navy veröffentlichte am 26. Juli den Navigation Plan 2022 (Navplan 2022). Diese in unregelmäßigen Abständen verfassten Dokumente geben Einblick in die Struktur- und Fähigkeitsplanung der amerikanischen Seestreitkräfte. Urheber des Navplans ist der jeweilige Admiralstabschef, der Chief of Naval Operations (CNO), in diesem Fall Admiral Michael Gilday.
Am meisten Aufsehen erregte die im Navplan propagierte neue Flottenzusammensetzung. Das genannte Ziel ist eine Kriegsflotte (Battle Force) von 373 bemannten Schiffen zuzüglich 150 großen, unbemannten Über- und Unterwasserfahrzeugen (USVs und UUVs). Ein Flugzeugbestand von rund 3000 Einheiten wird angestrebt. Unter den 373 bemannten Schiffen sollen 291 bewaffnete Kriegsschiffe sein: 12 strategische Unterseeboote der COLUMBIA-Klasse, 66 Jagdunterseeboote, 12 Flugzeugträger, 96 große Überwasserkriegsschiffe (Zerstörer), 56 kleine Kriegsschiffe (Fregatten und LCS), 31 große sowie 18 leichte amphibische Kriegsschiffe. Sie werden ergänzt durch 82 Logistikschiffe, Versorger und andere Hilfsschiffe, die Kampfeinsätze direkt unterstützen können. Diese angestrebte Zusammensetzung soll bis 2045 realisiert werden.
Das genannte Ziel einer Battle Force aus insgesamt 523 Einheiten entspricht einer Ausweitung um mehr als 50 Prozent gegenüber heute. Bei der bemannten Flotte soll der Zuwachs primär bei den Fregatten, Jagdunterseebooten, Logistikschiffen sowie bei der neuen Schiffskategorie der leichten Amphibienschiffe erfolgen. Der eigentliche Schlüssel zum Ausbau der Flotte liegt aber bei der Einführung von unbemannten Überwasserschiffen in Korvettengröße und unbemannten U-Booten, die rund ein Drittel der taktischen Flotte stellen sollen. Operative Konzepte werden noch ausgearbeitet, doch sollen diese neuen Schiffstypen sowohl Kampf- wie Aufklärungseinsätze durchführen.
Der Navplan 2022 ist bereits die vierte Vorlage in diesem Jahr, die sich mit Zielvorgaben hinsichtlich Umfang und Zusammensetzung der künftigen Kriegsflotte befasst. Die vorhergehenden Dokumente weisen in dieser Hinsicht – bei bemannten wie unbemannten Einheiten – einen breiten Streuungsgrad auf. Admiral Gilday geht im Navplan auch auf diese Vielfalt der Strukturvorschläge ein. Das neue Dokument „ergänzt den 30-jährigen Flottenbauplan sowie die Force Structure Assessment [Studie] aus diesem Jahr”, schreibt Gilday. Damit steuert der Navplan 2022 eine langfristige strategische Vision bei, die auf der Grundlage von Planspielen sowie technologischer Forschung und Entwicklung die organisatorische Lernkurve der Navy instrumentalisiert, erklärt der CNO. „Die Ausrichtung unserer Kräftestrukturentwicklung auf das Zieljahr 2045 wird richtungsweisend sein für die wesentlichsten Entscheidungen und Investitionen, die die Navy im Verlauf des kommenden, ausschlaggebenden Jahrzehnts beschließt.“
Kampfwertsteigerung
Gilday betont, dass die neue Flotte nicht nur größer sondern – aufgrund der Einführung neuer Schiffstypen, Sensoren, Waffen und Einsatztaktik – auch kampfstärker wird. Der wichtigste Grund für die Aufstockung der Flotte liegt im stetigen Ausbau der chinesischen Seestreitkräfte. Die aktuelle Einsatzdoktrin der Navy sieht vor, dass eine große Anzahl bewaffneter Schiffe getrennt fahren, aber koordiniert kämpfen (Distributed Maritime Operations, DMO). Dies nicht zuletzt, um den bereits jetzt bestehenden numerischen Vorteils des Gegners auszugleichen. Der Ausbau der Flotte durch leistungsfähige unbemannte Einheiten wird die Umsetzung dieser Strategie erst ermöglichen. Ferner soll damit gewährleistet werden, dass die US Navy auch zukünftig in zwei räumlich getrennten Konflikten gleichzeitig erfolgreich operieren kann.
Die Umsetzung des DMO-Konzepts ist abhängig von sechs Vorgaben hinsichtlich der Flottenstrukturentwicklung. Der Navplan 2022 fasst diese Vorgaben zusammen:
- Reichweitensteigerung: Die Einführung weitreichender Präzisionswaffen auf allen Trägerplattformen steigert die Offensivfähigkeit sowie den Eigenschutz.
- Täuschung: Täuschmaßnahmen – einschließlich Stealth, Nutzung von Deckung, Beweglichkeit, Eindämmung der Emissionen und elektronische Kampfmittel – um die Überwachungsfähigkeit und Lagekenntnis des Gegners zu reduzieren und die eigene Manöverfreiheit zu steigern.
- Abwehrfähigkeit: Integrierung von Richtenergiewaffen und kinetischen Abwehrmitteln, um gegnerische Angriffe zu neutralisieren.
- Kräftestreuung: Die Verteilung der Kräfte und die Einführung kleinerer bemannter wie unbemannter Waffenträger ermöglicht die Bedrohung des Feindes durch mehrere Angriffsachsen. Die Erstellung eines Lagebildes durch den Gegner wird erschwert, ebenso wie seine Fähigkeit, Gegenmaßnahmen einzuleiten.
- Gesicherte Versorgung: eine robuste Logistikstruktur für Nachschub und Wartung der Einsatzkräfte noch auf der letzten taktischen Meile auf See.
- Entscheidungsführung: gegen Störung und Cyberangriffe geschützte Daten- und Kommunikationsnetzwerke, die Einbindung von künstlicher Intelligenz (KI) sowie akkurate Datensammlungen sollen die taktische Entscheidungsfindung beschleunigen. Die Vernetzung von Sensoren, Waffen und Entscheidungsträgern ermöglicht eine Konzentrierung der Feuerkraft ohne Gefährdung der Einsatzkräfte.
Interoperabilität
Ein weiterer Schwerpunkt im Navplan 2022 ist die Stärkung der Interoperabilität mit Verbündeten und Partnern, sowohl im Rahmen der Abschreckung wie auch der Kriegsführung. Die Bedeutung einer starken globalen Präsenz bereits in Friedenszeiten – als Signal an potenzielle Gegner und als Mittel zur Förderung der Zusammenarbeit mit Partnern – wird hervorgehoben. „Unsere Bündnisse und Partnerschaften bilden unseren wichtigsten strategischen Vorteil. [...] Durch [ständige] Zusammenarbeit stärken wir unsere Fähigkeit, im Konflikt zu siegen, und stärken die integrierte Abschreckung durch Vorführung einer geeinten Front gegen potenzielle Gegner.”
Auch hier reflektiert der neue Navplan eine Priorität von Gilday, der die Maßstäbe der Interoperabilität um eine Dimension steigern möchte. „Im Gespräch mit Verbündeten und Partnern verwende ich häufig das Wort ‚Austauschbarkeit‘, denn diese Eigenschaft sollten wir alle anstreben“, erklärte er während des Manövers Rimpac im Juli. „Damit meine ich, dass die Schiffe eines Verbündeten oder Partners die gleichen operativen Aufgaben wie amerikanische Schiffe übernehmen können.“ Sowohl im Atlantik- wie im Indopazifikraum wird seit Jahren verstärkt die Einbindung amerikanischer Kräfte in Schiffsverbände der Verbündeten und umgekehrt geprobt. Dies beruht auf der Erkenntnis, dass selbst eine erweiterte US-Flotte im Falle eines größeren Krieges auf Alliierte angewiesen sein wird. Auch im Mittleren Osten strebt der Admiral neue multinationale Konzepte an. Als Beispiel nannte er im August die Task Force 59 der US Navy am Standort Bahrain. Die Einheit koordiniert mit „sechs oder sieben“ Partnerländern den Einsatz unbemannter Boote und Flugzeuge um ein detailliertes Lagebild im Roten Meer und im Persischen Golf zu erstellen. Bis Sommer 2023 sollen 100 vernetzte unbemannte Systeme im Einsatz sein, von denen die meisten durch die Partner gestellt werden, erklärte Gilday.
Umsetzung als Herausforderung
Fraglich bleibt, ob das genannte Ziel realistisch ist. Um eine Battle Force mit 523 Einheiten bis 2045 zu erreichen, muss die Flotte real um zehn Einheiten pro Jahr wachsen. Da jährlich im Durchschnitt zirka zehn Schiffe ausgemustert werden, müsste die Werftindustrie 20 Einheiten pro Jahr ausliefern. Während unbemannte und kleinere bemannte Einheiten sowie Versorgungsschiffe auf einer größeren Anzahl Werften gebaut werden könnten, bleiben potenzielle Infrastrukturengpässe beim Ausbau der Zerstörer- und U-Bootflottillen. Admiral Gilday raümt dies unumwunden ein: „Unsere Industriekapazität ist begrenzt” erklärte der CNO im August auf einer Veranstaltung der Heritage Foundation. „Mein Bestreben wäre es, die Fertigungslinien für Zerstörer, Fregatten, [amphibische] Schiffe und Logistikschiffe zu optimieren.”
Um die Wirtschaft zu motivieren, die erforderlichen Infrastrukturinvestitionen zu tätigen, müsste das Beschaffungssystem allerdings dazu übergehen, längerfristige Auftragsgarantien anstelle der heute üblichen Vergabe von Aufträgen im Jahrestakt oder in kleinen Tranchen zu vergeben. Ob der Kongress bereit wäre, dem zuzustimmen, bleibt fraglich.
Schließlich bleibt die Frage der Finanzierung eines massiven Flottenausbaus. Der Navplan 2022 nennt eine langfristige, kaufkraftbereinigte Anhebung des Marineetats um drei bis fünf Prozent. Damit sollen Flottenmodernisierung und -ausbau bei gleichzeitiger Wahrung eines hohen Einsatzbereitschaftsgrads gewährleiste werden. Eine Mehrheit im Kongress ist dazu bereit, höhere Verteidigungsausgaben zu bewilligen. Fraglich bleibt, ob dieser Trend auch über die nächsten 20 Jahre vorherrschen wird.
Sidney E. Dean
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