Foto: Bw/Kim Couling

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Wenn nicht jetzt, wann dann?

Der Krieg in der Ukraine hat unser Land aus einem sicherheitspolitischen Tiefschlaf aufgeschreckt. Im Zuge dieses Erwachens wiederentdecken wir eine zwischenzeitlich vergessene Selbstverständlichkeit: Streitkräfte müssen einsatz- und kampfbereit sein und Krieg führen können, falls die Abschreckung versagt.

Die NATO hat bereits reagiert; Abschreckung und Verteidigung sind die zentralen Elemente des neuen strategischen Konzepts der NATO. Diese Schwerpunktverlagerung erfordert auch von uns gefechtsbereite und durchsetzungsfähige Seestreitkräfte an der Nordflanke des NATO Bündnisgebiets. Mit dem Zielbild Marine 2035+ hat der Inspekteur der Marine den Weg für unsere Teilstreitkraft bis weit in die nächste Dekade hinein abgesteckt. Auf der strategischen und militärpolitischen Ebene ist die Zeitenwende eingeleitet.

In der Truppe ist die Wirkung der politisch erklärten Zeitenwende jedoch noch nicht vollends angekommen. Die Aufbruchstimmung und der anfängliche Pragmatismus von Februar 2022 sind an vielen Stellen schon wieder verflogen.

So werden bei Ausrüstung und Instandhaltung weiterhin sämtliche Regelungen des Umwelt-, Arbeits- und Betriebsschutzes durchgesetzt, selbst dann, wenn sie dem originären Einsatzzweck nicht dienlich sind oder diesen sogar korrumpieren.

Bei Personal und Ausbildung müssen wir mit einer Soldatenarbeitszeitverordnung leben, die nicht nur Truppeninstandhaltung limitiert, sondern auch die Zeit zum Gewinnen von Anlagen- und Gerätekenntnissen und somit die Einsatzfähigkeit einschränkt. Wir müssen damit leben, dass die Vorgesetzten im ureigensten Bereich der Truppenführung kaum noch eine Stimme oder Einfluss haben, wenn es um Bewerbungen, Einstellungen und Ausbildungsabläufe in einem zentralisierten Personalmanagement geht. Für nahezu alle Ressourcen gilt, dass die Truppe im ausufernden Dickicht vorwiegend ziviler Vorschriften zum Antragsteller degradiert wurde.
Zur Ehrlichkeit gehört allerdings auch, dass sich manche Angehörige der Truppe in dieser (neuen) Welt gut eingerichtet haben. Insoweit stehen wir am Scheideweg; ein Weiter-so mit dem Schwerpunkt auf Effizienz, vermeintlicher Attraktivität durch permanente Erleichterungen und persönliche Vorteile darf es nicht geben. Wir müssen uns wieder auf militärische Effektivität und soldatische Tugenden rückbesinnen, ohne jedoch den Fehler zu machen, die Uhr zurückdrehen zu wollen. Das neue Kriegsbild – Stichwort multi-domain operations – ist komplexer, schneller und letaler als das im (vergangenen) Kalten Krieg.

Wenn wir in zukünftigen Kriegsszenarien und Gefechten bestehen wollen,

  • muss der Zweck eines Kriegsschiffes wieder der bestimmende Faktor für Auslegung, Ausrüstung und Betrieb werden,
  •  müssen zeitlose militärische Grundforderungen wie Tapferkeit, Entschlussfreude, Leistungsfähigkeit und gesunde Härte sich in Ausbildung und Personalauswahl konsequent wiederspiegeln,
  • muss Effektivität und Pragmatismus der Vorzug gegeben werden vor Wirtschaftlichkeit und Prozessorientierung,
  • muss das bequeme Verwalten im Einzelnen sich wieder dem praxisstauglichen und gefechtsmäßigen Funktionieren des Ganzen unterordnen und
  • müssen Vorgesetzte wieder in die Lage versetzt werden, das immer noch reichlich vorhandene, motivierte Personal zu fördern und (seefahrts-)unwilliges Personal zu sanktionieren oder sich von diesem vorzeitig zu trennen.

Boris Pistorius hat unmittelbar nach seinem Amtsantritt als Bundesminister der Verteidigung ein starkes Signal zur Verbesserung und Beschleunigung des Beschaffungswesens gesetzt und dazu aufgefordert, „selbst unnötig angelegte Fesseln“ abzuwerfen und Produkte schnellstmöglich zu realisieren, um den materiellen Bedarf der Streitkräfte schneller, effektiver und unbürokratischer als bisher zu decken. Alle Führungsebenen sollen dabei eigenständig und eigenverantwortlich handeln. Diesen Appell sollten wir nicht nur auf das Beschaffungswesen begrenzt lassen, sondern in seinem Geiste auf unser tägliches Handeln und alle Entscheidungsprozesse übertragen.

Im unmittelbaren Nachgang des 24. Februar 2022 haben Soldatinnen und Soldaten als auch zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf Basis der Weisung des Inspekteurs der Marine „Alles raus, was schwimmt!“ bewiesen, dass, wenn wir wirklich wollen, wir auch tatsächlich können und pragmatisch handeln. Dies erforderte Mut und den Willen zur Entscheidung, das eigenverantwortliche Ausschöpfen von Ermessenspielräumen sowie die Bereitschaft zum kalkulierten Risiko. Den Beweis haben wir erbracht!

Wir haben in der Bundeswehr im Allgemeinen und in der Deutschen Marine im Besonderen auf allen Ebenen gute Vorgesetzte und da beziehe ich die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorbehaltlos mit ein. Insofern sollten wir als Vorgesetzte dementsprechend handeln und darüber hinaus unsere Frauen und Männern in unseren unterstellten Bereichen durch alle Ebenen hindurch bestärken und anhalten, Eigenständigkeit walten zu lassen, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen, Ermessenspielräume mutig auszuschöpfen oder sogar zu erstreiten und dabei Fehlertoleranz walten zu lassen. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Flottillenadmiral Axel Schulz ist Kommandeur der Einsatzflottille 2.

Axel Schulz

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