…verfolgen wir die Jahresrückblicke für 2022. Die Geschehnisse in der Welt sind in einer Rasanz eingetreten, wie wir es uns nicht vorstellen konnten – oder wollten. Mit der Hoffnung auf ein nahes Ende der Pandemie, dem Wunsch nach gutem Regieren in Berlin und einer guten Zukunft mit den Regierenden in Washington, Paris oder Rom hofften wir auf Stabilität, auf gewohnte wirtschaftliche Zufriedenheit. Putin werde es schon nicht so ernst meinen mit seinem Aufmarsch, die Kritik der USA an Nord Stream 2 sei übertrieben, den Verteidigungshaushalt könne man, wenn denn überhaupt nötig, moderat weiterentwickeln und wir konzentrieren uns auf die Bewältigung des Klimawandels, denn sicherheitspolitische Weltrisiken werden uns schon nicht bedrohen. Die neu in den Plenarsesseln Sitzenden blickten frisch und erwartungsvoll in eine vermeintlich goldene Regierungszukunft, nicht ahnend, welche speziellen Herausforderungen wirklich auf sie zukommen würden. Hatte ich noch in meinem Januar-Editorial allen ein gutes Jahr 2022 gewünscht, was mir heute ungewollt zynisch erscheint, kam alles ganz anders. Aber weder der Ukraine-Krieg mit seinen Folgen für Welternährung und Friedensordnung noch die Energiekrise mit ihren wirtschaftspolitischen Konsequenzen und sozialpolitischen Beruhigungsversuchen kamen völlig überraschend. Die Hinterlassenschaften der Flutkatastrophe im Ahrtal aus dem Vorjahr waren noch lange nicht beseitigt, aber dass so etwas wieder passieren könnte, wurde uns allmählich bewusst.

Wo man auch hinschaut, jedes der Geschehnisse im Jahr 2022 hatte vorangehende Expertenwarnungen. Meine im Januar 2022 formulierten Zweifel an überzeugenden sicherheitspolitischen Entscheidungen waren leider richtig, weil mich Erfahrung und Einschätzung von Experten wie Wolfgang Ischinger zunehmend beunruhigten, der seine Erkenntnisse noch kurz vor dem russischen Überfall mit „ich sehe nur Negatives“ formulierte. Dass Deutschland strategisch schlecht aufgestellt ist, schien mit der „Zeitenwende“-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz endlich überwunden. Was nur nicht passieren dürfe, sagte mir ein von der NATO-Begeisterung beeindruckter Kollege aus Brüssel, sei, dass Deutschland nicht liefere. Dann könne man sich nicht mehr blicken lassen. Und genau das trat ein, denn die Milliarden wurden relativiert, der Ansatz verstolpert, das Vertrauen in die ernste Absicht ging schnell in Skepsis über.

Und warum diese quälende Langsamkeit? Dafür gibt es gute Gründe, schließlich arbeiten in den Entscheidungsgremien keine Tölpel. Aus den verwässerten Milliarden wird eine geschrumpfte Shopping-Tour, wie unsere Schwesterzeitschrift „Europäische Sicherheit“ es nannte. Besonders die Marine wurde massiv beschränkt, das Heer kann sich ein wenig über kleinere Beschaffungen freuen, die Luftwaffe genießt die Beschaffung der amerikanischen F-35-Kampfjets. Das ist mehr als für die nukleare Teilhabe nötig, und mit den zehn Milliarden könnte man auch ein halbes Dutzend Kampfschiffe und Hunderte gepanzerte Fahrzeuge beschaffen. Ist das der durchdachte Schwerpunkt der Landesverteidigung? Wenn ja, bleibt immer noch die kritische Frage, warum das deutsche Steuergeld vor allem in die USA abfließt und nicht in die Wertschöpfungskette deutscher Hightech-Firmen und der Werftindustrie und damit hiesigen Arbeitsplätzen zugutekommt.

Die Resilienz gegen Bedrohungen besteht nicht nur aus Waffensystemen, sondern auch aus wirtschaftlicher Stärke, öffentlicher Sicherheit und sozialem Frieden. Machen wir uns klar, dass der Krieg im Südosten Europas ein Prüfstein für die liberalen Demokratien der Welt ist, die lediglich 13 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Ernsthafte Verteidigungsbereitschaft beinhaltet auch Katastrophenschutz und Alarmierungsfähigkeit. Finnland macht es uns mit 200 000 Reservisten und 64 neuen F-35-Kampfjets vor, weil man sich als Frontstaat sieht. Schlagzeilen in Deutschland hingegen befassten sich aufgeregt mit dysfunktionalen Flughäfen im Sommerurlaub. Die katastrophale Lieferkettensituation im Seehandel und in den Häfen ist viel gravierender für unser Wohlergehen. Vielleicht müssen wir noch dringender über unsere Schwerpunkte nachdenken.

Haben Sie, liebe Leserinnen und Leser nun den Eindruck, dass ich diesmal weniger optimistisch als sonst ins neue Jahr schaue? Nein, ich glaube unbeirrbar an Hoffnung, Vernunft und Gelingen. Ich wünsche Ihnen auch dieses Jahr alle Kraft, die Herausforderungen zu bestehen. In Gedanken an das ukrainische Volk, stellvertretend für alle Leidenden dieser Welt, sind wir privilegiert und werden ein gutes Jahr 2023 haben. Ich wünsche es Ihnen.

Holger Schlüter

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