Insel: Die weltberühmten Kreidefelsen von Dover

Insel: Die weltberühmten Kreidefelsen von Dover

Geografie kommt vor Geschichte

Die Insellage hat den Charackter und das Denken der Briten maßgeblich beeinflusst. Von der anderen Seite des Kanals sieht manches eben anders aus.

Ian Morris gilt als Historiker für die langen Linien. Vor gut zehn Jahren warf er in seinem Bestseller „Wer regiert die Welt?“ die grundlegende Frage auf, warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden. Eine seiner Antworten passte in die damalige Zeit, die geprägt war von Interventionen westlicher Staaten, die oft mit Hilfe lokaler Kräfte in Afrika, auf dem Balkan, im Nahen Osten und am Hindukusch in regionale Konflikte eingriffen. Damals konnte man beim Ritt von Morris durch die Weltgeschichte lernen, dass die Regionalisierung von westlichen Militäreinsätzen lediglich eine Renaissance erlebte und keine vollkommen neue Strategie war. Nicht zuletzt die britische Heimat des heute in Stanford lehrenden Geschichtsprofessors spielte dabei eine Rolle: Großbritannien hatte sich bereits in der Kolonialära regionaler Kräfte bedient, um die Oberhand in Krisenregionen zu erlangen – ob in Afrika oder in Asien, wenn auch aus gänzlich anderen Motiven heraus als bei den Nation-Building-Missionen der Gegenwart.

Nun hat sich Morris erneut seinem Geburtsland gewidmet – und ebenfalls erneut in langen Linien. Bei ihm ist es bereits zu einer Tradition geworden, seinen Untersuchungsgegenstand über einen Zeitraum von Tausenden von Jahren zu beleuchten – so zuletzt in seinem bewusst provozierenden Buch „Krieg. Wozu er gut ist“ über Wahrnehmungen kriegerischer Gewalt von der Steinzeit bis heute, erschienen ein Jahr vor Beginn von Russlands militärischer Aggression gegen die Ukraine 2014.

Um Konflikte und Kriege über die Jahrtausende geht es auch in seinem neuen Buch „Geographie ist Schicksal“. Morris stellt hier die Insellage seiner britischen Heimat in den Mittelpunkt und setzt sie in Bezug zu Kontinentaleuropa und der weiteren Welt. Dabei geht er davon aus, dass Identität, Mobilität, Wohlstand, Sicherheit und Souveränität an sich schon immer die größten Sorgen der Menschheit waren. Zum Zeugen dafür erklärt er den römischen Historiker Tacitus, der bereits vor 2000 Jahren in einer der ältesten erhaltenen schriftlichen Darstellungen Britanniens die Diskussionen der Einheimischen über diese Fragen schilderte: Während Rom Britannien in sein Reich gezogen habe, hätten einige Briten die Verfeinerung und den Glanz, den ihre gewalttätigen Eroberer auf die Insel gebracht hätten, genossen, während andere alles, was vom Kontinent gekommen sei, als von Haus aus dekadent betrachtet hätten.

Zugleich stellt Morris fest, dass die Briten heute ganz anders über Identität, Mobilität, Wohlstand, Sicherheit und Souveränität denken würden als zu Zeiten von Winston Churchill, geschweige denn von Königin Victoria, von Königin Elisabeth I. und ihren Freibeutern Francis Drake und Walter Raleigh oder von Caesar. Diese Feststellung überrascht zwar nicht, aber ihre Begründung zieht sich bei Morris wie ein roter Faden durch seine ausführliche Darstellung des „Machtkampfs zwischen Großbritannien, Europa und der Welt“: Wenn man das historische Gesamtbild betrachte, erkenne man, dass letzten Endes etwas anderes – etwas sehr viel Grundlegenderes – darüber entscheide, wie die Menschen über Identität, Mobilität, Wohlstand, Sicherheit und Souveränität denken würden: Geografie.

Festland: Zum Verwechseln ähnlich sehendie Felsen von Cap Blanc-Nez, südlich von Calais gelegen, aus

Festland: Zum Verwechseln ähnlich sehen die Felsen von Cap Blanc-Nez, südlich von Calais gelegen, aus

Auch für die Begründung dieser These greift Morris auf Zeugen zurück. Er erinnert daran, dass David Cameron als Premierminister und Vater des EU-Referendums bereits sechs Jahre vor dem Brexit auf die Frage nach seinem Lieblingsbuch aus der Kindheit „Our Island Story“ von Henrietta Marshall aus dem Jahr 1905 genannt habe – eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Insellage den britischen oder – wie Marshall es ausgedrückt habe – den englischen Charakter geprägt habe. In seinem Historikerkollegen Robert Tombs erkennt Morris dar-über hinaus einen Bruder im Geiste. Dieser habe genauso gedacht und seinem Buch „This Sovereign Isle“ 2021 eine offenkundige Wahrheit vorangestellt: „Die Geografie kommt vor der Geschichte. Inseln können nicht die gleiche Geschichte haben wie kontinentale Ebenen.“

Diese Aussagen entwickelt Morris nun weiter. Für ihn hat Geografie eine noch weitergehende Bedeutung: Während sich die physische Gestalt der britischen Inseln in den letzten paar Tau-send Jahren kaum geändert habe – ihre Küsten, Flüsse und Berge würden sich immer noch mehr oder weniger dort befinden, wo sie gewesen seien, als Stonehenge errichtet worden sei –, habe sich die Bedeutung dieser geografischen Gegebenheiten erheblich verändert. Die langfristi-ge Betrachtung hat Morris gelehrt, dass die Bedeutung von Geografie stets von zwei Faktoren abhängt: von Technologie, insbesondere bei Mobilität und Kommunikation, sowie von Organi-sation, vor allem von Organisationsformen, die es ermöglichen, neue Technologien effektiv zu nutzen.

Da sich Technologie und Organisation bekanntlich ständig wandeln, verändert sich nach der Analyse von Morris auch die Bedeutung von Geografie, wodurch sich wiederum die Rolle von Identität, Mobilität, Wohlstand, Sicherheit und Souveränität wandelt. Vor diesem Hintergrund sieht Morris im Brexit „lediglich die vorläufig letzte Runde in einer uralten Diskussion über die Bedeutung der britischen Geografie“.

So stellten Ärmelkanal und Nordsee bereits im Mittelalter durch die professionalisierte und organisierte Schifffahrt keine Barrieren mehr dar, sondern bildeten maritime Autobahnen. Morris leitet daraus ab, dass Britanniens Nähe zu Europa damals größeres Gewicht gehabt habe als seine Insularität.

Zugleich sei es den Engländern bald besser als allen anderen gelungen, neue Schifffahrtstechnologien mit neuen Organisationsformen zu verbinden. Morris ruft in Erinnerung, dass die Regierungen in London Flotten zu bauen vermochten, die stark genug waren, um zu verhindern, dass jeder, der die französische Kanalküste erreichte, auch den Ärmelkanal überqueren und nach England gelangen konnte.

Der Ärmelkanal blieb zwar immer exakt gleich schmal. Aber in dem Moment, da die Royal Navy den Feinden Englands den Zugang zu dieser Meerenge verweigern konnte, setzte sich laut Morris die Insularität gegen die Nähe durch. Philipp II. in Spanien, Ludwig XIV. und Napoleon in Frankreich und Hitler in Deutschland machten alle dieselbe Erfahrung: Die kurze Strecke von Calais nach Dover schien eine Million Kilometer lang zu sein, solange die Briten das Meer beherrschten.

Was folgt daraus für die Zukunft? Nach einer Hunderte Seiten langen Geschichte der wechsel-seitigen Beziehungen zwischen den britischen Inseln und dem europäischen Festland sowie den weiteren Kontinenten mit all ihren politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Facetten gelangt man mit Morris in die unmittelbare Gegenwart. Hier dreht es sich – nicht überraschend – auch in Großbritannien um den Umgang mit dem Wiederaufstieg Chinas. Zwar hatte London 2021 in seiner „Integrated Review of Security, Defence, Development and Foreign Policy“ wie schon die Vereinigten Staaten die „Hinwendung zum indopazifischen Raum“ angekündigt, da Chinas militärische Modernisierung und sein wachsendes internationales Durchsetzungsvermögen in der Indopazifik-Region und darüber hinaus eine zunehmende Bedrohung für die Interessen des Vereinigten Königreichs darstellen würden. Zwar wird in London sogar darüber gesprochen, im Südchinesischen Meer wieder einen britischen Stützpunkt zu errichten – in Brunei oder Singapur. Zwar zeigen Umfragen, dass sich auch die Briten vor China fürchten, aber nicht so sehr wie Amerikaner oder Australier. Vielmehr betrachten sie Russland als unmittelbare Bedrohung. Der europäische Kontinent ist erneut sehr nah, das britische Engagement im ukrainischen Vertei-digungskampf gegen die russische Aggression sehr stark. Morris könnte dazu mit britischem Understatement bemerken: Geografie ist Schicksal.

Dieser Beitrag schließt an einen Artikel an, der am 17. August 2022 in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht wurde.

Thomas Speckmann ist Historiker und Politikwissenschaftler und hat Lehraufträge an den Universitäten Bonn, Münster, Potsdam und der FU Berlin wahrgenommen.

Thomas Speckmann

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