Neues Führungszentrum der Marine in der Hanse-Kaserne, Foto: hsc

Neues Führungszentrum der Marine in der Hanse-Kaserne, Foto: hsc

Nicht auf unserer Wache

Nicht erst seit Beginn des Ukrainekriegs erhebt Deutschland einen Führungsanspruch in der Ostsee. Mit Deu Marfor besitzt die Marine ein wichtiges Element, um dieses Ziel zu erreichen.

Die Ankündigung der „Zeitenwende“ am 27. Februar 2022 durch Olaf Scholz als Reaktion zum russischen Angriff auf die Ukraine ist aus vielerlei Hinsicht von besonderer sicherheitspolitischer Relevanz. Die Hauptprämisse dabei ist klar: Deutschland muss sich sicherheitspolitisch neu orientieren. Der russische Feldzug ist dabei zwar nicht der Auslöser, wohl aber der Funke, der das Fass zum explodieren bringt.

Gerade NATO-Bündnispartner, aber auch europäische Nachbarstaaten fordern schon lange eine an die gegenwärtigen Bedrohungen angepasste Sicherheitspolitik von Deutschland. Dazu zählen unter anderem eine angemessene Ausrüstung der Bundeswehr, die Refokussierung auf Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) und die Einhaltung von Bündnisverpflichtungen, wie das Zwei-Prozentziel der NATO. Die der Ankündigung des Bundeskanzlers folgende Aussage des Finanzministers, dass Deutschland die schlagkräftigste Armee Europas erhalten solle, unterstreicht dabei nicht nur die Ernsthaftigkeit des Deutschen Sinneswandels, sondern lässt sich als deutliche Warnung gegenüber aktuellen und zukünftigen Aggressoren verstehen.

Das am 3. Juni beschlossene Sondervermögen stellt dabei die unmittelbare finanzielle Grundlage dar, um die Bundeswehr entsprechend der neuen Herausforderungen auszurüsten. Die Betonung liegt dabei auf Ausrüstung und nicht Aufrüstung. Schließlich sind die 100 Milliarden Euro in etwa der Betrag, welcher ergänzend zum bereits eingeplanten Verteidigungshaushalt benötigt wird, um in den kommenden Jahren das Zwei-Prozentziel der NATO zu erfüllen. Darüber hinaus soll so auch die NATO-Vereinbarung umgesetzt werden, 20 Prozent des Verteidigungsetats für Rüstung auszugeben. Dieser Wert wurde in Deutschland seit mindestens 1990 nicht mehr erreicht.
Das Sondervermögen hat somit die Aufgabe, die Bundeswehr in die Lage zu versetzen, ihre grundlegenden Aufgaben effektiv und mit geeignetem Material zu erfüllen. Ob es allerdings ausreicht, die schlagkräftigste Armee Europas zu formen, ist angesichts steigender Kosten und beschleunigter Inflation fraglich. Die befürchtete Stagnation der Verteidigungsausgaben in den kommenden Jahren führt weder dazu, dass die Bundeswehr Planungssicherheit erhält, noch scheint sie geeignet, Gegner europäischer und internationaler demokratischer Grundwerte glaubhaft abzuschrecken.

Der damalige Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Andreas Krause, bei der Aufstellung von Deu Marfor im Jahr 2019, Foto: Bw

Der damalige Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Andreas Krause, bei der Aufstellung von Deu Marfor im Jahr 2019, Foto: Bw

Auch wenn sich die genauen operativen Veränderungen, die mit der Zeitenwende für die Bundeswehr einhergehen, im Laufe der Zeit noch konstituieren müssen, sind bereits jetzt strukturelle und organisatorische Anpassungen notwendig. Doch auch die politischen Vorgaben müssen sich ändern. Die geforderte Refokussierung auf LV/BV wird nicht ohne eine Reduzierung der vielfältigen, oft maritimen Aufgaben des internationalen Krisenmanagements möglich sein.
Bei der Marine zeigt sich bereits seit einigen Jahren der Wille, einen stärkeren Fokus auf die Landes- und Bündnisverteidigung zu legen. Die unmittelbare Entsendung der gesamten einsatzfähigen Flotte Ende Februar zur Operation Baltic Guard in die Ostsee bewies die schnelle Mobilisierungsfähigkeit, welche auch auf die intensiven Einsätze im Rahmen der Standing NATO Maritime Groups in den vergangenen Jahren zurückzuführen ist.
Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich die Ostsee, nicht zuletzt durch die Explosionen der Nord-Stream-Pipelines, zu einem der wohl bedeutendsten Nebenschauplätze des russischen Angriffskriegs, auch wenn die kriegerischen Handlungen den Raum nicht unmittelbar betroffen haben. Ungeachtet dessen sahen sich die Anrainerstaaten gezwungen, ein eindeutiges Zeichen für die Sicherheit der Ostsee und die Freiheit der durch sie verlaufenden See- und Versorgungswege zu setzen. Damit wurde mehr denn je die Signifikanz und Vulnerabilität des Meeres verdeutlicht.

Reaktion auf Annexion
Als Ostseeanrainer ergibt sich auch für Deutschland und die Deutsche Marine eine verschärfte Bedrohungslage, auf die es angemessen zu reagieren gilt. Akut bedeutet dies vor allem eine Anpassung an Regionalisierungstendenzen der NATO und den Aufbau stabiler Verteidigungsstrukturen in heimischen Gewässern, der Ost- und Nordsee, sowie der Nordflanke.

Passend dazu gründete Deutschland 2019 den Einsatzstab Deu Marfor, der nach NATO-Standards in Rostock für die Koordinierung nationaler und internationaler Operationen in genau diesen Gewässern zuständig sein soll und von der NATO als Hauptquartier genutzt werden kann. Die Aufstellung des Stabs gliedert sich in die Entwicklung der bereits bestehenden sechs regionalen Maritimen NATO Commands ein. Mit der Gründung des Stabs soll hier eine regionale Fähigkeitslücke geschlossen werden, da durch die bestehenden Kommandos bis dato nur das Mittelmeer, die europäischen atlantischen Gewässer und die Nordsee abgedeckt wurden. Außerdem war die Einrichtung von Deu Marfor eine Reaktion auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim-Halbinsel im Jahr 2014 durch Russland.
Diese Handlungen zwangen die NATO zu einem Umdenken bezüglich des Umgangs mit dem östlichen Nachbarn. Folgerichtig wurde damals die Notwendigkeit eines Kompetenz- und Kommandozentrums mit NATO-Standards in der Ostsee erkannt, um drohenden Gefahren effektiv und im Bündnis entgegenwirken zu können. Da der Rostocker Stab zwar nach NATO-Standards geplant ist, aber weiterhin einen nationalen Führungsstab mit multinationalen Kommandofähigkeiten darstellt, ist er auch für Staaten außerhalb des Bündnisses anschlussfähig.

Entscheidung vertagt
Dabei stellen sich allerdings verschiedene Fragen: Worauf baut der Führungsanspruch Deutschlands in der Ostsee? Braucht Deutschland Deu Marfor? Macht es Sinn, für den Ostseeraum ein einzelnes Kommando zu haben? Und inwiefern besteht hier eine Diskrepanz zwischen politischem Willen und militärischen Möglichkeiten?

Die Gründung von Deu Marfor folgt dem seit Jahren artikulierten Führungsanspruch Deutschlands in der Ostsee. Mit der Initiierung der Baltic Commanders Conference und dem NATO Centre of Excellence for Operations in Confined and Shallow Waters (COE CSW) in Kiel wurde dieser bereits praktisch hinterlegt. Mit der Aufstellung von Deu Marfor als möglicher Grundstein der durch die NATO angestrebten Baltic Maritime Coordination Function (BMCF) geht Deutschland einen Schritt weiter.

Internationale Kooperation ist das Markenzeichen von Deu Marfor, Foto: Bw/Björn Wilke

Internationale Kooperation ist das Markenzeichen von Deu Marfor, Foto: Bw/Björn Wilke

In Deu Marfor sind drei Stäbe der Marine aufgegangen und die bisherige Struktur wurde gestrafft. Trotzdem wurden hier erhebliche finanzielle Investitionen getätigt, ohne bislang den Zuschlag für die BMCF erhalten zu haben. Derzeit ergibt sich durch die Zusammenlegung und das gleichzeitige Anstreben der NATO-Zertifizierung eine Stabstruktur, welche in die deutsche Kommandostruktur eingebunden ist und gleichzeitig auf Englisch kommuniziert. Dies ermöglicht einerseits das Einbinden von Verbindungsoffizieren aus Partnernationen, andererseits muss der Stab momentan alle Befehle mehrfach übersetzen. Den Mehrwert durch Multinationalität kann man zusätzlich in Frage stellen, da drei Viertel des Personals deutsch ist und bisher nur aus fünf Staaten ständiges Personal vor Ort ist. Die direkte Anbindung an die NATO ermöglicht allerdings auch, alle NATO-Informationen sowie Lagebilder in der Deutschen Marine zu nutzen und direkt mit der NATO kommunizieren zu können. Derzeit ist noch offen, ob die Vorteile die hohen finanziellen und administrativen Kosten wettmachen.

Zusätzlich ergeben sich sowohl aus der räumlichen Nähe wie in der Überschneidung der Tätigkeitsbereiche zwischen Deu Marfor und dem COE CSW Hindernisse. Beide Institutionen bemühen sich um dasselbe internationale Personal. Insbesondere Deu Marfor hat bisher noch Schwierigkeiten, die bis zu 25 internationalen Dienstposten zu besetzen. Hierfür kann es mehrere Gründe geben: Kleineren NATO-Marinen fehlt schlichtweg das Personal, um alle möglichen NATO-Dienstposten zu besetzen. Aber auch militärpolitische Gründe spielen eine Rolle.

Die Ambitionen Deutschlands sind sicherlich lobenswert, stellen für die NATO aber auch ein zweischneidiges Schwert dar. Neben Deutschland hat auch Polen Interesse an der Übernahme der BMCF bekundet. Die eigentlich für 2021 angekündigte Entscheidung in dieser Frage wurde bisher vertagt. Ein Votum zum jetzigen Zeitpunkt für Deutschland und damit gegen Polen könnte, so die Befürchtung, die Beziehung zwischen beiden Ländern langfristig weiter belasten und sich negativ auf die innere Geschlossenheit des Bündnisses auswirken.

Um diesen Disput zu umgehen, könnte sich die NATO auch für eine dritte, nichtbeteiligte Nation entscheiden. Allerdings hat bisher kein Staat sein Interesse bekundet und angesichts der hohen Bedeutung Deutschlands und Polens für die NATO ist es unwahrscheinlich, dass man beide Länder brüskiert. Es wird daher entscheidend sein, ob es militärpolitisch gelingt, Polen so in Deu Marfor zu integrieren, dass es gesichtswahrend seine Ambitionen auf die BMCF zugunsten Deutschlands aufgeben kann. Solange sich in dieser Frage keine Lösung abzeichnet, ist nicht mit einer Entscheidung bezüglich der BMCF durch die NATO zu rechnen.

Als Letztes bleibt die Frage offen, wie Deu Marfor in Friedenszeiten genutzt werden kann. Eine Verwendung als internationaler Führungsstab durch andere Institutionen kommt wohl nur durch die EU in Frage, allerdings hält sich diese im Bereich LV/BV noch zurück, zumal absehbar fast alle Ostseeanrainer NATO-Mitglieder sind und Dopplungen vermieden werden sollen. Durch den regionalen Fokus auf die Ostsee sind andere internationale Verwendungen fast ausgeschlossen.

Eine Nutzung von Deu Marfor für die Nordflanke der NATO, besonders das Nordmeer, ist zwar möglich, aber unwahrscheinlich, da der Zuschlag spezifisch für die Ostsee vergeben wird. Sollte aber eine Erweiterung auf die Nordflanke angestrebt werden, würde das die politische Situation zusätzlich verkomplizieren, da dann nicht mehr nur die Interessen der Ostsee-, sondern auch der Nordmeeranrainerstaaten in Einklang gebracht werden müssen.

Alternative Nutzung
Abgesehen von seinem Nutzen für die Allianz, kann Deu Marfor eine Plattform für die operative Umsetzung der neuen Ambitionen deutscher Sicherheitspolitik im Maritimen Raum bieten. Das Kompetenz- und Führungszentrum ermöglicht die Koordinierung nationaler und multinationaler Operationen in der Ostsee. Mit den richtigen Kompetenzen ausgestattet und mit politischem Willen hinterlegt, bietet es die Möglichkeit, die maritimen Aufgaben der LV/BV zu übernehmen. Soll Deu Marfor also kein reiner NATO-Stab sein, sollte es mit den nötigen Fähigkeiten ausgestattet werden, auch im nationalen Rahmen eine Koordinationsaufgabe im Ostseeraum übernehmen zu können.
Darüber hinaus darf Deutschland weder die Nordsee noch die Nordflanke außer Acht lassen. Selbst wenn Deu Marfor auf NATO-Ebene hauptsächlich im Ostseeraum eingesetzt werden soll, sollte zumindest auf nationaler Ebene kritisch hinterfragt werden, ob der Stab nicht auch für den Nordsee- und Nordflankenraum zuständig sein sollte. In Kombination mit einer Refokussierung auf LV/BV-Aufgaben könnte die Deutsche Marine so vorhandene und auf NATO-Ebene zertifizierte Koordinationsfähigkeiten nutzen, um in diesen Gewässern verstärkt Präsenz zu zeigen, (multi-)nationale Übungen durchzuführen und Fähigkeiten zur Verteidigung der Landes- und Bündnisgewässer auszubauen.

Deu Marfor kann die neuen Ambitionen deutscher Sicherheitspolitik unterstützen, Foto: Bw/Björn Wilke

Deu Marfor kann die neuen Ambitionen deutscher Sicherheitspolitik unterstützen, Foto: Bw/Björn Wilke

Auch wenn die Deutsche Marine vor der schwierigen Aufgabe steht, mit zu wenigen Einheiten LV/BV zu leisten, Missionen des internationalen Krisenmanagements durchzuführen und internationale maritime Diplomatie auszuführen, darf die Errichtung von Deu Marfor keine Abwendung von internationalen Ambitionen bedeuten. Zwar wurde die Bedeutung von LV/BV spätestens seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine deutlich. Allerdings ist Deutschland als eine der weltweit führenden Wirtschaftsmächte auf internationale Stabilität und damit einhergehende freie Seewege angewiesen.

Somit kann und darf ein globales Engagement, wie es beispielsweise das Indo-Pacific Deployment war, nicht vernachlässigt werden. Eine effektive Nutzung von Deu Marfor im Sinne der verbesserten Integration multinationaler Einheiten könnte für die Deutsche Marine Kapazitäten freilegen, welche sie dringend für internationales Engagement benötigt, ohne die nationalen Gewässer zu vernachlässigen. Ähnlich wie bei der Koordination deutscher und niederländischer amphibischer Kräfte, könnte Deu Marfor eine effektivere Aufgabenteilung in der Ostsee erreichen. Diese ermöglicht es, Fähigkeitslücken der vorwiegend kleinen Ostseemarinen zu schließen und gleichzeitig die Deutsche Marine zu entlasten.

Deutscher Führungsanspruch in der Ostsee – nicht nur bei Manövern, Foto: US Navy

Deutscher Führungsanspruch in der Ostsee – nicht nur bei Manövern, Foto: US Navy

Deu Marfor ist neben der Gründung der Baltic Commanders Conference ein weiterer Schritt Deutschlands hin zu einer aktiveren Führungsrolle in der Ostsee. Als größte alliierte Marine in diesem Gebiet sind das genau die richtigen Zeichen an die Verbündeten.

Nun gilt es, baldmöglichst die NATO-Zertifizierung zu erreichen und Deu Marfor als führendes Kooperationszentrum für Ostsee und Nordflanke zu etablieren. Ob dies erfolgreich gelingen kann, liegt zu einem großen Teil auch an der erfolgreichen Integration Polens, das ebenfalls die Baltic Maritime Coordination Function übernehmen möchte, diese aber, anders als Deutschland mit Deu Marfor, noch nicht institutionell hinterlegt hat. Ausgestattet mit den richtigen politischen und militärischen Kompetenzen, kann sich Deu Marfor dann zu einem wertvollen Akteur deutscher und europäischer maritimer Sicherheit innerhalb und außerhalb der NATO entwickeln.

Anne Runhaar studiert Internationale Politik und Internationales Recht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft am dortigen Institut für Sicherheitspolitik (ISPK). Henrik Schilling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für maritime Strategie & Sicherheit am ISPK.

Anne Runhaar und Henrik Schilling

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