Mit ihren Flugkörpern SM-2 deckt eine Fregatte der Klasse 124 etwa den vierfachen Luftraum des Patriot-Systems ab, Bild: Marcel Kröncke

Mit ihren Flugkörpern SM-2 deckt eine Fregatte der Klasse 124 etwa den vierfachen Luftraum des Patriot-Systems ab, Bild: Marcel Kröncke

Wird die Marine bei der Luftverteidigung vergessen?

Die landgestützten Systeme Patriot, Iris-T und Arrow sind bei der Luftverteidigung in aller Munde. Doch bereits heute verfügt die Deutsche Marine mit den Fregatten 124 über moderne und effektive Waffen für diesen Zweck.

Russlands völkerechtswidriger Krieg gegen Städte und kritische zivile Infrastruktur in der Ukraine führt endlich auch in Deutschland zu der Erkenntnis, wie wichtig eine effiziente Luftverteidigung ist. Jetzt soll ernsthaft und zügig nachgerüstet werden – gemeinsam mit anderen NATO-Partnern. Dies hat  Verteidigungsministerin Christine Lambrecht in einem Statement am Rande des Oktober-Treffens der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel bekannt gegeben. Demnach haben vierzehn europäische Staaten sowie Deutschland einen Letter of  Intent zur Gründung einer European Sky Shield Initiative (ESSI) mit dem Ziel einer gemeinsamen Luftverteidigung unterzeichnet. Das Projekt European Sky Shield ist eine deutsche Initiative, die die gemeinsame Beschaffung und den Betrieb von Luftverteidigungssystemen in Europa vorsieht. Ziel sei auch, Interoperabilität herzustellen und durch gemeinsame Beschaffungen geringere Preise bei der Industrie zu erzielen, so Lambrecht.

Laut der Verteidigungsministerin stehen für Deutschland die Luftverteidigungssysteme Stinger, Iris-T, Patriot und Arrow 3 im Fokus. Zur Finanzierung der deutschen Anteile am Projekt soll auch das Sondervermögen der Bundeswehr genutzt werden. Zu den Unterzeichnern gehören neben dem Initiator Deutschland auch Belgien, Bulgarien, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, die Niederlande, Norwegen, Slowenien, die Slowakei, Rumänien, Großbritannien und Finnland. ESSI soll aber allen Staaten innerhalb der NATO ebenfalls offenstehen.

In keiner der unmittelbar nach der Unterzeichnung veröffentlichten Pressemeldungen las man allerdings über die für einen solchen Luftverteidigungsschirm zwingend notwendigen Sensoren zum Entdecken und Verfolgen gegenerischer Luftfahrzeuge und Flugkörper, den sogenannten Radarschirm. Zwar stellt Deutschland seine bodengebundene Luftraumüberwachung derzeit auf modernste Technologie um, eine Vielzahl der Unterzeichnerstaaten hat aber keinerlei oder nur unzureichend geeignete Sesoren zur umfassenden Luftraumüberwachung.

Auch fand im Vorfeld der Initiative keine Abstimmung mit dem für die Luftverteidigung in NATO-Europa zuständigen Air Component Command in Ramstein statt. Entscheidend für die Effektivität eines solchen umfassenden Luftverteidigungsbeitrags wäre dessen bruchfreie Einbindung in das NATO Integrated Air and Missile Defence System (NATINAMDS).

Maritime Fähigkeiten
In den Presseveröffentlichungen werden ausschließlich landgestützte Luftverteidigungssysteme der bodengebundenen Luftverteidigung erwähnt. Bereits vorhandene und künftige maritime Systeme der europäischen NATO-Staaten blieben ungenannt. Warum finden zwar vorhandene schultergestützte Stinger-Raketen und das betagte Patriot-System Erwähnung, die Fregatte 124 und die in der Planung befindliche Fregatte 127 aber nicht? Der Standard Missile 2 (SM-2) einer F 124 deckt in etwa den vierfachen Luftraum im Vergleich zum Flugkörper des Patriot-Systems ab. Somit könnten die drei deutschen Fregatten 124 theoretisch allein mit dem SM-2-Weitbereichsflugkörper bereits soviel Abdeckung wie alle zwölf deutschen Patriot-Staffeln zusammen leisten. Hinzu kämen bei den Fregatten 124 noch erhebliche Fähigkeiten im Nahbereichsschutz mit den ESSM-Flugkörpern.

Rechnet man die mittlerweile sechs dauerhaft im spanischen Rota stationierten amerikanischen Zerstörer hinzu, stünden der NATO in Europa bereits heute rund vierzig moderne Luftverteidigungsschiffe mit einem breiten Spektrum von Sensoren und Abwehrflugkörpern für den Kurz-, Mittel- und Weitbereich einschließlich der Abwehr ballistischer Flugkörper zur Verfügung. Diese maritimen Fähigkeiten bei den Planungen zum European Sky Shield zu vernachlässigen, wäre ein fataler Fehler.

Geburtsfehler
Aber selbst wenn man diesen Geburtsfehler korrigieren würde: Der Begriff shield, der einen Schutzschirm assoziiert, ist irreführend. Russland verfügt über Tausende Kurz- und Mittelstreckenraketen. Einen umfassenden Schutzschirm kann es für ein Flächenland wie Deutschland niemals geben. Deutschland hat alleine 80 Großstädte mit mehr als 100 000 Einwohnern. Und der bereits in die NATO-Luftverteidigung integrierte European Phased Adaptive Approach (EPAA), mit dem die USA seit 2016 in Südosteuropa einen „Raketenschirm“ mit Standard Missile 3 (SM-3) zur Verfügung stellen, bietet nur einen sehr begrenzten Wirkbereich.

Außerdem fehlt der Initiative der Blick in die Zukunft. Mit Stinger, Patriot und Iris-T bekämpft man unter- und überschallschnelle Ziele vom Tiefflugbereich bis zu 30 Kilometer Höhe. Das können die vorhandenen maritimen Systeme ebenfalls. Mit Arrow 3 werden ballistische Raketen außerhalb der Atmosphäre, also in über 100 Kilometer Höhe, abgewehrt. Keines der in den Berichten genannten Systeme wäre in der Lage, hyperschallschnelle taktische Raketen abzuwehren wie jene russischen Kinschal-Raketen, die bereits gegen die Ukraine eingesetzt wurden. Dazu bedürfte es Fähigkeiten in der oberen Endo-Atmosphäre, also zwischen 30 und 100 Kilometer, was eine multinationale Studie zum Thema Seabased Upper Layer Effector Feasibility bereits 2018 erarbeitete und wozu das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) mit dem Projekt HF 133 Hyperschalltechnologien erste Analysen aufgenommen hat.
Die Abwehr von Drohnen ist mit den in der ESSI erwähnten Flugkörpern kaum möglich. Gegen sie könnte zum Beispiel ein Lasersystem zum Einsatz kommen, wie es im Sommer 2022 auf der Fregatte Sachsen erfolgreich getestet wurde, in der Initiative aber leider keine Erwähnung fand.

Die Beschaffung von Arrow 3 zur Abwehr ballistischer Flugkörper wäre zudem mit Blick auf das russische Bedrohungspotenzial lediglich Augenwischerei. Deutschland würde vermutlich drei oder vier Systeme beschaffen, die 30 bis 40 einsatzbereite Abfangflugkörper bereitstellen könnten. Russland hat Hunderte von Gefechtsköpfen in seinem strategisches Raketenarsenal. Es müßte lediglich ein Gefechtskopf mehr eingesetzt werden und der Abwehrschirm wäre überwunden.

Stärkung der Abschreckung
Hier erscheint eine zügige und glaubhafte Stärkung der nuklearen Teilhabe im Rahmen der Abschreckung sinnvoller, was mit der Ankündigung der Beschaffung von Dual-Use-Jagdbombern des Typs F-35 bereits angedacht wird. Ebenso würde die Schaffung eigener konventioneller Fähigkeiten für einen Deep Precision Strike, also der Option, bis zu 2000 Kilometer tief auf gegnerischem Gebiet Raketeninfrastruktur oder Ähnliches zerstören zu können, eher dazu beitragen, die russische Führung von einem Angriff auf deutsches oder NATO-Territorium abzuschrecken.  Nicht umsonst zielt das im Juli 2022 beschlossene neue strategische Konzept der NATO auf mehr und glaubhaftere Abschreckung („Deterrence“) ab.

Fazit
Mit dem Kauf von Abwehrraketensystemen allein ist es nicht getan. Der Aufbau umfassender  Luftverteidigungsfähigkeiten (Aufklärung, Führung, Wirkung, Unterstützung) in Europa wird Jahrzehnte dauern. Nur in einer gemeinsamen Sensor- und Führungsarchitektur mit den vorhandenen Fähigkeiten der NATO, befähigt zu Multi-Domain-Operations und in enger Kooperation mit dem European Phased Adaptive Approach, das in der Endausbaustufe zwei Aegis-Landstationen, sechs Raketenzerstörer und ein Weltraumüberwachungsradar umfassen soll, wird ESSI agil und resilient genug sein, Teile der Bevölkerung effektiv vor dem russischen Luftkriegspotenzial zu schützen. Dabei sollten schon heute Technologien wie Hyperschall und Laser berücksichtigt werden. Inwieweit eine begrenzte Fähigkeit zur Abwehr ballistischer Flugkörper im Angesicht des Umfangs des russischen Arsenals sinnhaft ist, wird die Diskussion um die Beschaffung ergeben. Dabei wird den politisch Verantwortlichen eine Auseinandersetzung mit dem Thema der Balance defensiver und offensiver Optionen nicht erspart bleiben.

Und zuletzt: Europa ist eine Halbinsel, die aus dem Ural herauswächst. Fast vierzig Luftverteidigungsschiffe mit ihren Sensoren und Effektoren könnten, entsprechend eingesetzt, bereits heute eine wichtige Komponente für den Schutz der ausgedehnten Küstenregionen des Kontinents darstellen. Die erforderlichen Verfahren dazu sind in den taktischen Vorschriften der NATO bereits dargelegt.

2015 lebten etwa 41 Prozent der Menschen in den EU-Staaten in einer Entfernung von weniger als 50 Kilometern von einer Küste, die Tendenz wurde damals als steigend angegeben. Auch die Deutsche Marine hätte zum Thema Luftverteidigung in NATO-Europa Wesentliches beizutragen.

Fregattenkapitän Andreas Uhl ist Mitglied des Warfare Development Fusion Team beim Allied Command Transformation in Norfolk, USA.

Schön wäre, wenn man dem Artikel bei Veröffentlichung eine Karte von Europa hinzufügen könnte, die zeigt, dass es "eine Halbinsel ist, die aus dem Ural herauswächst" (siehe Fazit, letzte beiden Absätze).  Bilder von F124 oder anderen europäischen Luftverteidigungsschiffen sowie PATRIOT, IRIS-T oder ARROW 3 würden ebenfalls zum Artikel passen. Bestimmt findet Markus da was passendes in seinem Archiv.

Andreas Uhl

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert